Die Reformierung des Justizwesens

Die Justiz in der DDR ist bis 1989 eine wichtige Stütze der SED-Diktatur. Die Rechtsprechung ist nicht unabhängig, sondern dient der Durchsetzung der sozialistischen Ideologie. Die Staatspartei definiert nicht nur die Rahmenbedingungen für Gesetze, sie greift auch in die Rechtsprechung ein und sichert sich mit der Parteimitgliedschaft der meisten Justizangehörigen den Zugriff auf das Rechtssystem.

Berlin, Kommunalwahl, L. de Maiziere, G. Gysi / BArch-Bild183-1990-0507-310.jpg. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0507-310, Fotograf: Bernd Settnik
Gregor Gysi (l.) und Lothar de Maizière (r.) am 7. Mai 1990: Beide gehören dem Kollegium der Berliner Rechtsanwälte an und wechseln während des Umbruchs 1989/90 in die Politik. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0507-310, Fotograf: Bernd Settnik

Die Abhängigkeit von der SED durchzieht alle Bereiche der Rechtsprechung: vom Obersten Gericht, dem höchsten Rechtsprechungsorgan der DDR, bis hin zu den Bezirks- und Kreisgerichten. Die meisten Richter und Staatsanwälte sind SED-Mitglieder. Diese enge personelle Verflechtung von staatlichen Instanzen und Parteiorganen dient der Durchsetzung des politischen Willens. Entsprechend bietet vor allem das Strafrecht der DDR die Möglichkeit, alle Handlungen zu bestrafen, die sich gegen die offizielle SED-Politik richten. Auch die Rechtsanwälte sind in der DDR nicht unabhängig. Bei der Verteidigung Angeklagter sind ihre Handlungsspielräume oft beschränkt, da die Urteile nicht selten schon im Vorfeld feststehen. Die Rechtsanwälte sind zudem in Kollegien organisiert; dies dient der Kontrolle und schränkt ihre Eigenständigkeit weiter ein. Da Rechtsanwälte im Grunde nicht gebraucht werden, gibt es in der gesamten DDR 1988 auch nur 606 Rechtsanwälte.

Reformversuche unter Hans Modrow

Die Umgestaltung des Rechtssystems in der DDR setzt noch während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 ein. Die Übergangsregierung unter Hans Modrow kündigt weitreichende Justizreformen an. Im Vordergrund steht zunächst die Abschaffung des politischen Strafrechts und ein Ende der politischen Strafjustiz, die mit Amnestien eingeleitet wird. Die Umsetzung der neuen Gesetzesvorhaben wird jedoch durch zwei Faktoren verzögert. Zum einen verschiebt die Übergangsregierung Hans Modrow den Erlass neuer Gesetze auf die Zeit nach den bevorstehenden Volkskammerwahlen. Zum anderen ist die Bereitschaft zu Veränderungen unter den Mitarbeitern des bislang SED-gelenkten Justizwesens wenig ausgeprägt. Personelle Konsequenzen gibt es zunächst kaum.

Erst Anfang 1990 entlässt Modrow den bis dahin amtierenden Justizminister Hans-Joachim Heusinger und ersetzt ihn durch Kurt Wünsche, der dem Ministerium auch unter der Regierung de Maizière vorsteht. Ebenfalls im Januar 1990 muss der Präsident des Obersten Gerichts, Günter Sarge, zurücktreten. Bis zu den Volkskammerwahlen im März 1990 ändert sich die Personalstruktur nur wenig: Von 1.238 Staatsanwälten scheiden bis Ende März 1990 nur 40 aus ihrem Amt aus. Ähnliches gilt für die Richter: Von etwa 1.500 Richtern in der DDR räumen bis Anfang April 1990 lediglich 66 ihren Posten. Noch im Februar 1990 beschließt der Ministerrat eine großzügige Vorruhestandsregelung, die Anreize für ein freiwilliges Ausscheiden setzt. Über eine Rechtsanwaltsverordnung wird zudem jedem Anwalt die Möglichkeit eingeräumt, eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Für die Juristen in der DDR ergeben sich dadurch neue berufliche Perspektiven

Transformation in der Regierung de Maizière

Bald nach den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 zeichnet sich ab, dass die DDR der Bundesrepublik beitreten wird. Im Justizwesen geht es nunmehr vor allem um die Übernahme der westdeutschen Rechtsnormen in der DDR. Entsprechend müssen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MdJ bei der Erarbeitung neuer Gesetze und Bestimmungen an der Gerichtsbarkeit und dem Rechtsverständnis der Bundesrepublik orientieren. Damit gehen große Unsicherheiten auf fachlicher Ebene einher, da die DDR-Juristen keinerlei Erfahrung mit westdeutscher Rechtsprechung haben.

Auch strukturell passt sich das Justizministerium den neuen Gegebenheiten an. Im Mai 1990 tritt eine neue, schlankere Organisationsstruktur in Kraft, die folgendermaßen aufgebaut ist:

  • Grundsatzabteilung
  • Abteilung Justizverwaltung
  • Abteilung Rechtspflege
  • Abteilung Zivilrecht
  • Abteilung Strafrecht
  • Abteilung Handels- und Wirtschaftsrecht
  • Abteilung Öffentliches Recht
  • Abteilung Militärgerichte

Das Justizministerium ist außerdem Herausgeber der Zeitschrift „Neue Justiz“.

Justizminister Kurt Wünsche sind drei Staatssekretäre unterstellt: Manfred Walther, Reinhard Nissel und als Parlamentarischer Staatssekretär Rolf Schwanitz (vom 23. Juli bis 20. August 1990).

Etappen der Rechtsanpassung

Ein erster großer Schritt zur Rechtsanpassung erfolgt mit dem Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, der am 18. Mai 1990 unterzeichnet wird. Darin wird unter anderem die Anpassung des DDR-Strafrechts an bundesdeutsches Recht verbindlich festgeschrieben. Bis zum Inkrafttreten des Vertrages am 1. Juli 1990 muss die DDR das politische Strafrecht abschaffen. Das entsprechende Gesetz wird am 29. Juni 1990 in der Volkskammer verabschiedet.

Im Juli 1990 wird ein neues Richtergesetz verabschiedet, das vorübergehend bis zur Wiedervereinigung gültig ist. Darin werden die Unabhängigkeit der Richter und ihre „ausschließliche Bindung an die Verfassung, an Gesetz und Recht“ festgelegt (Art. 3, Richtergesetz vom 5. Juli 1990). Eine Überprüfung aller aktiven Richter mit Blick auf ihre Befähigung, im Amt zu verbleiben, ist in diesem Zusammenhang nicht vorgesehen. Mit einer neuerlichen Vorruhestandsregelung haben Richter zudem die Möglichkeit, finanziell abgesichert und unkompliziert aus dem Amt zu scheiden.

21. Volkskammersitzung vom 5. Juli 1990: Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Volkskammerfraktion und Berichterstatter des Rechtsausschusses der Volkskammer, Rolf Schwanitz, hält eine Rede anlässlich der Schlussberatung des Richtergesetzes. Kurze Zeit später wird Schwanitz als Parlamentarischer Staatssekretär ins Ministerium der Justiz berufen.

Deutscher Bundestag

Manfred Walther äußert sich im Interview zum Richtergesetz, das im Juli 1990 durch die Volkskammer verabschiedet wurde und das u.a. die Unabhängigkeit der Richter festschreibt. Kritik wurde am Gesetz geübt, weil eine Überprüfung aller aktiven Richter mit Blick auf ihre Befähigung, im Amt zu verbleiben, nicht vorgesehen war.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Die Anpassung des DDR-Rechts an bundesdeutsche Standards betrifft auch die Gerichtsbarkeit. Die bisherigen Strukturen – Oberstes Gericht, Bezirks- und Kreisgerichte – müssen aufgelöst und neu organisiert werden. In diesem Zusammenhang spielt das Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der DDR vom 22. Juli 1990 eine wichtige Rolle. Die neuen Länder richten nach bundesdeutschem Vorbild Amts-, Landes- und Oberlandesgerichte ein, die die Funktionen und Aufgaben der früheren Bezirks- und Kreisgerichte übernehmen. Das Oberste Gericht der DDR wird mit der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 abgeschafft.

Mit dem Rechtsanwaltsgesetz vom 13. September 1990 wird wenige Wochen vor dem Ende der DDR allen Juristen im Staatsdienst die Möglichkeit gegeben, eine Zulassung als Rechtsanwalt zu beantragen. Diese besitzt auch im vereinten Deutschland Gültigkeit. Von dieser Möglichkeit wird rege Gebrauch gemacht: noch in den Abendstunden des 2. Oktober 1990 werden zahllose Anträge auf Anwaltszulassungen genehmigt. Die Überprüfung der politischen Vergangenheit geht mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik an die neuen Länder über, die viele Jahre mit der Prüfung belasteter Juristen beschäftigt sind.

Staatssekretär Reinhard Nissel über die Anwaltszulassungen wenige Wochen vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.

Heimatfilm GbR, 2009

Im Interview erinnert sich Manfred Walther an das Rechtsanwaltsgesetz vom September 1990, mit dem alle Juristen im Staatsdienst die Möglichkeit erhielten, eine Zulassung als Rechtsanwalt zu beantragen, die auch im wiedervereinigten Deutschland ihre Gültigkeit besitzen würde.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Die ARD-Fernsehsendung berichtet über Rechtsbeugungen von DDR-Juristen.

Kontraste vom 7. August 1990.
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