Ernährungswirtschaft

Bereits die Regierung Modrow beschließt im Februar 1990, dass für Waren aus dem westlichen Ausland Importlizenzen mit einer Laufzeit bis 30. Juni 1990 vergeben werden können. Dadurch gelangen schon im Frühjahr 1990 massenweise Produkte aus der Bundesrepublik in die DDR. Der Verkauf von DDR-Erzeugnissen geht dadurch stark zurück, obwohl die Ostprodukte aufgrund der staatlichen Subventionierung günstiger sind. Zur Kontrolle der Warenströme bei Agrarprodukten und daraus hergestellter Erzeugnisse auf dem Gebiet der DDR wird per Regierungsbeschluss im Mai 1990 die Anstalt für landwirtschaftliche Marktordnung (ALM) gebildet. Sie ist außerdem für die Durchsetzung der Marktordnungsmaßnahmen zuständig.

Doch an der ALM und dem Zoll der DDR vorbei werden große Warenmengen aus der Bundesrepublik über die grüne Grenze importiert. Der Export in die Bundesrepublik erfolgt hingegen unter den Bedingungen, die im Rahmen des innerdeutschen Handelsprotokolls im Herbst 1989 und in der Vereinbarung über den sogenannten Veredelungsverkehr im Mai 1990 ausgehandelt worden waren.

Mit Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 verschärft sich die Situation. Die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger greift nun lieber zu neuen Waren aus dem Westen, die man seit langem aus dem Westfernsehen kennt und die man nun (endlich) erwerben kann. Kaum ein landwirtschaftliches Produkt der DDR, egal ob Milch, Obst, Gemüse oder Fleisch- und Wurstwaren, findet seinen Weg noch zum Verbraucher. So beträgt gemäß einer Information aus dem MELF Ende August der Marktanteil bei einheimischem Käse nur noch etwa 15 %, bei Butter 30% und bei Fleisch- und Wurstwaren 40%. Auch die verarbeitenden Betriebe, beispielsweise der Getränke-, Backwaren- und Süßwarenindustrie, sind betroffen. In einem internen Papier räumt das MELF ein, „daß die heimische Verarbeitungsindustrie in Konkurrenz mit Produkten aus dem EG-Raum aufgrund ihrer materiell-technischen Basis nicht in der Lage ist, die Ernährungsbedürfnisse der Menschen an Nahrungsmitteln mit einem breiten Sortiment, mit hoher Qualität, einer entsprechenden Angebotsform und zu angemessenen Preisen so zu befriedigen, wie es der Verbraucher berechtigterweise erwartet.“ Dies sei das Resultat „einer extremen Vernachlässigung der Modernisierung der Nahrungs- und Lebensmittelindustrie.“

Die Gründe für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit sind vielfältig. Sie reichen von zu kleinen Produktionseinheiten und dadurch bedingter relativ hoher Produktionskosten über fehlende Verpackungs-, Portionier-, Kühl- und Konservierungstechniken bis hin zu unzureichenden technischen Voraussetzungen für die Veredelung von Erzeugnissen. Die technische Modernisierung der Produktion in der Verarbeitungs- und Ernährungsindustrie erfordert enorme Investitionen, die ohne staatliche Unterstützung kaum möglich sind. Vor allem die Molkereigenossenschaften sind auf kurzfristige finanzielle Hilfen angewiesen.

Um die Wettbewerbsnachteile der DDR-Produzenten weiter zu kompensieren, wird eine „Fördergruppe Markt“ gebildet. Sie soll die Absatz- und Logistikstrukturen neu aufbauen, verkaufsfördernde Maßnahmen anschieben und die Markterschließung in der Bundesrepublik und der EG unterstützen. Zusätzlich ist eine breit angelegte Imagekampagne für Ost-Produkte geplant. Sämtliche Marketing- und absatzfördernde Maßnahmen werden in enger Abstimmung mit dem Ministerium für Handel und Tourismus erarbeitet und umgesetzt.

Peter Pollack berichtet im Interview über die Absatzprobleme für Ostprodukte, Schwierigkeiten im innerdeutschen Warenhandel und verärgerte Genossenschaftsbauern.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Im Interview spricht Peter Pollack über die staatlich subventionierten Exporte, um den Markt zu entlasten.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Folgen für den Handel mit Ländern der EG und des RGW

Mit Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion werden auch sämtliche EG-Marktordnungen eingeführt. Das heißt, die DDR darf ihre Produkte nun ähnlich wie die Bundesrepublik ohne Zölle in andere EG-Länder exportieren. Doch die Nutzung des Marktes ist zugleich an die Einhaltung der EG-Normen gekoppelt. In der DDR gelten jedoch (noch) ganz andere Standards bei Hygiene, Verpackung oder dem Einsatz von Düngemitteln und in der Schädlingsbekämpfung. In der Praxis finden daher Exporte in EG-Länder nur in eingeschränktem Maße statt. Außerdem führt die Umstellung auf DM zu erheblichen Problemen im Handel mit den Ländern des RGW. Die bestehenden Verträge können von diesen nicht mehr erfüllt werden, weil sie die Waren nicht mehr wie bisher in transferablen Rubel, sondern zumeist in Westwährung bezahlen müssen. Das können die RGW-Länder nicht, so dass auch die Exporte in den Osten fast völlig zum Erliegen kommen. In den folgenden Wochen stellt die Regierung umfangreiche Exportstützungen zur Verfügung, um den Markt von den Produktionsüberschüssen zu befreien.

Um den spezifischen Problemen der Agrar- und Ernährungswirtschaft Rechnung zu tragen, finden im Sommer 1990 umfangreiche Verhandlungen mit der EG statt. Es werden eine Reihe von Übergangsregelungen und Sonderfristen bis zum vollständigen Inkrafttreten der EG-Mitgliedsrechte und -pflichten gewährt. Für den Agrarsektor werden beispielsweise ein Subventionsprogramm und die auf zwei Jahre befristete Überschreitung der EG-Mengenbegrenzung bei der Pflanzenproduktion beschlossen. In dieser Zeit sollen die Überkapazitäten abgebaut werden. Weitere Regelungen betreffen den Pflanzenschutz, die Lebensmittelhygiene und das Veterinärwesen. Das Gesetzespaket wird allerdings erst nach der Vereinigung im Dezember 1990 vom Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament beschlossen.

19. Volkskammersitzung: Redebeitrag von Staatssekretär Peter Kauffold am 29. Juni 1990 zur Marktorganisation für land- und ernährungswirtschaftliche Erzeugnisse.

Deutscher Bundestag

28. Volkskammersitzung: Redebeitrag zur Übernahme der EG-Regelungen auf dem Gebiet der Landwirtschaft von Minister Pollack in der Volkskammer am 8. August 1990.

Deutscher Bundestag
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