Der Strukturwandel im Gesundheitswesen der DDR ist grundlegend. Nur wenig des Vorhandenen kann erhalten werden, nachdem sich die DDR mit Unterzeichnung des Vertrags über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion auf die Übernahme der bundesrepublikanischen Standards festgelegt hat. Zudem findet eine Diskussion über nützliche und sinnvolle Maßnahmen aus den Bereichen der ambulanten Versorgung, der Vorsorge sowie der medizinischen Forschung nur in begrenztem Rahmen statt. Unter dem Druck der bundesdeutschen Ärzteverbände und Krankenkassen wird nicht ernsthaft geprüft, was am DDR-Gesundheitswesen unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen erhaltenswert ist.
Der Systemwechsel im Gesundheitswesens führt insbesondere in den folgenden Bereichen zu grundlegenden Veränderungen:
Stationäre Versorgung (staatliche und kirchliche Krankenhäuser)
Apothekenwesen
Medizinische Forschung
Vorsorgesystem
In einer deutsch-deutschen Gesundheitskommission werden ab Mitte Mai 1990 verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministeriums für Gesundheit einerseits und des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (BMJFFG) andererseits angehören. Diese Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit den notwendigen rechtlichen Anpassungen des Gesundheitswesens der DDR an das westdeutsche Modell. Außerdem wird ein großer Beraterkreis bei der Vorbereitung der Gesetze und Verordnungen hinzugezogen. Dazu gehören unter anderem Vertreterinnen und Vertreter der Bezirksverwaltungsbehörden, der Ärzte- und Zahnärztekammern, kassenärztlicher Vereinigungen sowie verschiedener Verbände aus Ost und West.
Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen
Stand der verschiedenen Arbeitsgruppen innerhalb der gemeinsamen Gesundheitskommission (Ende August 1990).
Die Vorteile der 626 Polikliniken, die es 1989 in der DDR gibt – die enge Zusammenarbeit von Fachärzten unterschiedlicher Disziplinen, die nicht nur medizinisch, sondern auch betriebswirtschaftlich positive Effekte hat – vermögen die westdeutschen Verhandlungspartner nicht zu überzeugen. Ihr Ziel ist es, die medizinische Grundversorgung der DDR-Bevölkerung künftig über freiberuflich tätige Ärzte in Einzelpraxen sicherzustellen. Daher führen Ärzte und Krankenkassenvertreter aus der Bundesrepublik bereits seit Dezember 1989 zahlreiche Veranstaltungen für ihre Kolleginnen und Kollegen im Osten durch, in dem sie das bundesrepublikanische Gesundheitssystem erläutern und massiv für die freie Niederlassung werben. Eine der größten Veranstaltungen dieser Art führt die Kassenärztliche Bundesvereinigung der Bundesrepublik im April 1990 in Leipzig durch, an der mehr als 2.000 Ärzte aus der DDR teilnehmen. Zugleich wird dort angeführt, dass die Polikliniken keine Zukunft haben und noch binnen Jahresfrist aufgelöst werden sollen. Das führt zu massiver Unruhe innerhalb der Ärzteschaft. Dieses Problem ist schon beim Amtsantritt von Gesundheitsminister Kleditzsch akut, wie ein Dokument vom 17. April 1990 belegt, das über „Stand und Probleme bei der Niederlassung von Ärzten und Zahnärzten in eigener Praxis“ informiert.
Um die Niederlassung von Ärzten und Zahnärzten in freien Praxen zu fördern, müssen zahlreiche Maßnahmen ergriffen werden. Dazu zählen insbesondere die Schaffung von Interessensvertretungen für Ärzte und Zahnärzte, Regelungen zur Nutzung von Arbeitsräumen bzw. Gesundheitseinrichtungen in Staatsbesitz sowie Vereinbarungen zur finanziellen Unterstützung bei Praxisgründungen. Zu diesem Zweck wird am 13. Juli 1990 das „Gesetz über die Berufsvertretungen und die Berufsausübung der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker“ (Kammergesetz) verabschiedet. Es ermöglicht die Bildung der Landesärztekammern, die als Interessenvertreter der niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte mit dem Versicherungsträger in Verhandlungen über die leistungsbezogenen Vergütungen treten. Auch die Verwaltungsstrukturen zur Leistungsabrechnung werden den neuen Anforderungen angepasst.
Mit dem „Gesetz zur Umstrukturierung des staatlichen ambulanten Gesundheitswesens, Veterinärwesens und Apothekenwesens“ vom 22. Juli 1990 werden wichtige Voraussetzungen zur Überführung bisher staatlicher Einrichtungen in private Hände geschaffen. Auf dieser Basis können Ärzte und Zahnärzte einen Antrag stellen, um beispielsweise die bisher genutzten Räumlichkeiten der Gesundheitseinrichtungen aus dem Staatsbesitz zu übernehmen.
Ungeachtet der Maßnahmen zur Förderung privater Arztpraxen setzt sich Gesundheitsminister Kleditzsch in den Verhandlungen für den Erhalt der Polikliniken und Ambulatorien als Zentren medizinischer Versorgung ein. Immerhin kann er eine sofortige Schließung abwenden und einen Bestandsschutz für eine Übergangszeit von fünf Jahren erwirken. Grundanliegen ist es, die Polikliniken zur Sicherstellung der ambulanten medizinischen Versorgungsaufgaben solange zu erhalten, bis sich die freiberufliche Tätigkeit soweit etabliert hat, um diese Aufgabe übernehmen zu können. Während der Übergangsfrist müssen die Polikliniken ihre Wirtschaftlichkeit nachweisen oder sich freiberuflich als – Ärztehäuser, Laborgemeinschaften, Praxisgemeinschaften usw. – organisieren. Für die Umstrukturierung und effiziente Arbeit in den Polikliniken und Ambulatorien sind die Gemeinden und Kreise als kommunale Träger zuständig, die danach über den weiteren Fortbestand entscheiden sollen. Die Finanzierung der Polikliniken erfolgt für diesen Zeitraum über die Krankenkassen auf Grundlage der erbrachten Leistungen. Die Vergütung der Leistungen wird zwischen den Krankenkassen und den kassenärztlichen bzw. kassenzahnärztlicher Vereinigungen ausgehandelt. Diese Festlegungen sind im Krankenkassen-Vertragsgesetz vom 13. September 1990 verankert.
Prof. Dr. Jürgen Kleditzsch berichtet im Interview über auftretende Probleme bei der Umstrukturierung des Gesundheitswesens 1990.
Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015
Prof. Dr. Jürgen Kleditzsch berichtet im Interview von den Vorteilen der Polikliniken, in denen Fachärzte unterschiedlicher Disziplinen eng zusammenarbeiten.
Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015
24. Volkskammersitzung vom 13. Juli 1990: Zweite Lesung und Begründung des sogenannten Kammergesetzes durch die Ausschussvorsitzende für Gesundheitswesen Frau Dr. Schönebeck.
Deutscher Bundestag
27. Volkskammersitzung vom 22. Juli 1990: Zweite Lesung zum Gesetz zur Umstrukturierung des staatlichen ambulanten Gesundheitswesens, Veterinärwesens und Apothekenwesens. Wortbeiträge von Ausschussmitgliedern und Erklärung des Ministers.
Deutscher Bundestag
Anerkennung der Berufsabschlüsse
Ein zentrales Thema innerhalb der Gesundheitskommission bildet die Anerkennung der Berufsabschlüsse der Gesundheits- und Heilberufe der DDR. Die Ausbildungen von Ärzten und Zahnärzten sind in der DDR und der Bundesrepublik sehr unterschiedlich strukturiert. Da es zwischen beiden Staaten kein Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung der Ausbildung gibt, sind die Befürchtungen auf Seiten der DDR groß, dass es ohne eine entsprechende gesetzliche Regelung zu einer Diskriminierung vieler Ärzte und Zahnärzte der DDR kommt, wenn sie im vereinten Deutschland ihre Approbation neu beantragen müssen. Nach intensiven Verhandlungen und massiver Intervention der sich in Gründung befindenden Ärzte- und Zahnärztekammern, gelingt es, im Einigungsvertrag eine Gleichstellung der Approbation als Arzt bzw. Zahnarzt der DDR zur Approbation im Sinne der Bundesärzteordnung zu erwirken.
Für Unmut sorgt bei den Ärzten und Zahnärzten unterdessen die Regelung zur Entlohnung im Einigungsvertrag. Die Leistungsvergütung soll nur 45 % des bundesdeutschen Honorarniveaus betragen. In Anbetracht der Preissteigerungen bei Mieten, Material, medizinischen Geräten und Personalkosten, wird diese Regelung als vollkommen inakzeptabel angesehen. Es kommt zu Protesten und Nachverhandlungen.
Weiterhin ist im Einigungsvertrag die Übernahme des Heilpraktikergesetzes der Bundesrepublik vorgesehen, da in der DDR die Heilpraktikerausbildung bereits 1949 eingestellt wurde und es 1989 faktisch nur noch sehr wenige Heilpraktiker in der DDR gibt. Des Weiteren werden Regelungen zur Anerkennung der Bezeichnung als Facharzt bzw. Fachzahnarzt sowie zu Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen getroffen. Insgesamt geht es bei den teils schwierigen Verhandlungen um den Bestandsschutz der erreichten DDR-Abschlüsse. Alle langfristigen Konzeptionen, die zur Vereinheitlichung der Berufsgesetze erarbeitet werden, können aufgrund der rasanten Entwicklung im Einigungsprozess nicht mehr berücksichtigt werden.
Die Situation in den 1.063 staatlichen Krankenhäusern der DDR verbessert sich durch die Hilfsaktionen aus der Bundesrepublik seit Anfang 1990 spürbar. Der Mangel an Arzneimitteln, Verbrauchsmaterialien und Ausstattungsgegenständen kann schrittweise abgebaut werden. Es werden finanzielle Mittel zur Sanierung der Bausubstanz und Modernisierung der Medizintechnik bereitgestellt. Die rund 500 Partnerschaften zwischen west- und ostdeutschen Krankenhäusern wirken sich in kurzer Zeit sehr positiv aus.
Im Zuge der Dezentralisierung und Entflechtung des Gesundheitswesens sind auch für die Krankenhausversorgung und -finanzierung neue Rahmenbedingungen zu schaffen. Die zentralen rechtlichen Regelungen dazu werden im Krankenhausfinanzierungsgesetz und der Pflegesatzverordnung getroffen.
31. Volkskammersitzung vom 23. August 1990: Redebeitrag von Minister Kleditzsch zum Krankenhausfinanzierungsgesetz.
Deutscher Bundestag
Die Umwandlung des Arzneimittel- und Apothekenwesens
Eine Arbeitsgruppe der deutsch-deutschen Gesundheitskommission beschäftigt sich mit der Neuordnung des Apothekenrechts. Mit der Verordnung über das Apothekenwesen vom 1. August 1990 und der Apothekenbetriebsordnung vom 6. August 1990 werden die rechtlichen Grundlagen neu gefasst. Verhandelt wird auch für diesen Berufszweig über die Anerkennung der erworbenen pharmazeutischen Berufsabschlüsse. Weitere Bestimmungen werden im Einigungsvertrag getroffen. Daneben wird die Einführung von in der Bundesrepublik zugelassenen Medikamenten für das Gebiet der DDR festgelegt. Ab Juni 1990 kommen schrittweise ca. 8.000 neue Medikamente in der DDR in Umlauf. Im Zuge der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wird eine Arzneimittelpreisverordnung verabschiedet, die am 27. Juli 1990 in Kraft tritt. Die ostdeutschen Pharmahersteller müssen daraufhin ihre Preise neu kalkulieren und im neu entstehenden Arzneimittelmarkt ihren Platz finden. Das Preisniveau gleicht sich dem der westdeutschen Produkte an. Mit der Wiedervereinigung sind dann alle in der Bundesrepublik verkehrsfähigen Arzneimittel auch in den neuen Bundesländern erhältlich. Für die ostdeutschen Hersteller und ihre Arzneimittel werden mit dem Einigungsvertrag Überleitungsregelungen wirksam, die einen aufwendigen Nachzulassungsprozess entsprechend der EG-Richtlinien nach sich ziehen. Neben dem erheblichen finanziellen Aufwand, den das für die betreffenden Unternehmen bedeutet, ist die Verkehrsfähigkeit jener Produkte für diesen Zeitraum außerdem auf den Bereich der neuen Bundesländer beschränkt.
Das staatliche Apothekenwesen der DDR wird binnen kurzer Frist privatisiert. Die staatlichen Apotheken und andere Betriebsformen wie die Pharmazeutischen Zentren werden aufgelöst. Das staatliche Versorgungskontor für Pharmazie und Medizintechnik (SVPM) samt seiner Versorgungsdepots muss entsprechend der „Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften“ vom 1. März 1990 umgewandelt werden und unterliegt ab März 1990 der Rechtsaufsicht der Treuhandanstalt. Durch diese werden einzelne Depots und Lager verkauft, der Rest der SVPM wird abgewickelt. Ebenso abgewickelt werden das Institut für Arzneimittelwesen, das Versorgungszentrum für Pharmazie beim MfG und das Institut für Medizintechnik.
Regelung zu den Berufsabschlüssen
Anordnung über berufliche Abschlüsse im Gesundheits- und Sozialwesen vom 28. August 1990.
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