Zusammenbruch des Agrarmarktes

Schon im Frühjahr 1990 gelangen aufgrund neuer Importlizenzen massenweise Produkte aus der Bundesrepublik in die DDR. Dadurch geht der Verkauf von DDR-Erzeugnissen stark zurück, obwohl diese Produkte aufgrund der staatlichen Subventionierung preisgünstiger sind. Die wenigen Kühlhäuser der DDR sind schon in den ersten Monaten des Jahres 1990 randvoll mit Fleisch, Butter, Eiern oder Honig, weil diese Waren nicht mehr abzusetzen sind.

Das hat drastische Auswirkungen auf die Situation der Bauern und Genossenschaften. Bereits bei seinem Amtsantritt im April 1990 ist Landwirtschaftsminister Peter Pollack mit diesem Problem konfrontiert. Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Monaten verschärfen. Hinzu kommt, dass durch die Festlegungen im ersten Staatsvertrag, der am 18. Mai 1990 unterzeichnet wird, die Einführung der Marktwirtschaft bevorsteht.

Innerhalb weniger Wochen müssen insbesondere die LPG erhebliche Strukturanpassungen auf den Weg bringen, um wettbewerbsfähig zu werden und wirtschaftlich rentabel zu produzieren. Viele Arbeitsplätze sind akut bedroht. Außerdem müssen sich die Erzeuger selbst um neue Abnehmer für ihre Produkte bemühen, da die bestehenden Verträge mit den Aufkaufbetrieben und der Lebensmittelindustrie nicht mehr eingehalten oder aufgekündigt werden. So bleiben die Primärproduzenten auf ihren Erzeugnissen sitzen, was zu großem Unmut und Verunsicherung führt. Auch die Aufkaufbetriebe und Lebensmittelproduzenten sind in einer schwierigen Lage, weil der Handel ihre Produkte nicht abnimmt, sondern die Konsum- und HO-Läden lieber mit Westwaren versorgt. Das sorgt einerseits für einen massiven Rückstau bei den Erzeugern und andererseits für Liquiditätsprobleme bei der Nahrungsgüterwirtschaft und der Kühl- und Lagerwirtschaft. Letztere können den ersteren nicht mehr die gesetzlich vorgeschriebenen Erzeugerpreise zahlen, weil sie selbst die Waren nicht weiterverkaufen können. Zur Verschärfung der Lage tragen auch die Verbraucher bei, weil sie keine einheimischen Produkte mehr kaufen.

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0328-026, Fotograf: Ralf Pätzold

28. März 1990, Perleberg (Bezirk Schwerin): In diesem Lager in Perleberg warten rund 1,3 Millionen Eier auf ihre Abnahme. Das Problem: Die Ware ist nicht abzusetzen. Ähnlich sieht es in anderen Kühlhäusern und Lagern der Region aus, in denen Bestände von insgesamt 11,3 Millionen Stück Eier vorrätig sind, darunter vier Millionen aus dem Jahre 1989.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0328-026, Fotograf: Ralf Pätzold
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0412-021, Fotograf: Peer Grimm

12. April 1990, Ost-Berlin: Mehr als 1.000 Bauern sind einem Aufruf des Bauernverbandes gefolgt und vor die Volkskammer gezogen. Sie fordern einen geregelten Absatz ihrer Agrarprodukte sowie die Sicherung des privaten und genossenschaftlichen Eigentums an Grund und Boden.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0412-021, Fotograf: Peer Grimm
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0419-027, Fotograf: Matthias Hiekel

19. April 1990, Dresden: 400 Bauern und Gärtner demonstrieren vor dem Haus der Kultur und Bildung (Tagungsstätte des Bezirkstages) gegen den unkontrollierten Import von Erzeugnissen aus der Bundesrepublik und für den Erhalt der LPG.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0419-027, Fotograf: Matthias Hiekel
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0503-028, Fotograf: Ralf Pätzold

3. Mai 1990, Schwerin: Während eines Informationsbesuches in der Kooperation Zierzow (Kreis Ludwigslust) spricht Ministerpräsident Lothar de Maizière mit einer Melkerin über aktuelle Probleme in der Landwirtschaft.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0503-028, Fotograf: Ralf Pätzold
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0618-307, Fotograf: Benno Bartocha

18. Juni 1990, Bezirk Neubrandenburg: Auch die Neubrandenburger Großbäckerei kann ihre Produkte nicht mehr absetzen. Deshalb werden große Mengen an Brot und Backwaren in der benachbarten LPG an Schweine verfüttert.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0618-307, Fotograf: Benno Bartocha
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0328-026, Fotograf: Ralf Pätzold

28. März 1990, Perleberg (Bezirk Schwerin): In diesem Lager in Perleberg warten rund 1,3 Millionen Eier auf ihre Abnahme. Das Problem: Die Ware ist nicht abzusetzen. Ähnlich sieht es in anderen Kühlhäusern und Lagern der Region aus, in denen Bestände von insgesamt 11,3 Millionen Stück Eier vorrätig sind, darunter vier Millionen aus dem Jahre 1989.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0328-026, Fotograf: Ralf Pätzold
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0412-021, Fotograf: Peer Grimm

12. April 1990, Ost-Berlin: Mehr als 1.000 Bauern sind einem Aufruf des Bauernverbandes gefolgt und vor die Volkskammer gezogen. Sie fordern einen geregelten Absatz ihrer Agrarprodukte sowie die Sicherung des privaten und genossenschaftlichen Eigentums an Grund und Boden.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0412-021, Fotograf: Peer Grimm
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0419-027, Fotograf: Matthias Hiekel

19. April 1990, Dresden: 400 Bauern und Gärtner demonstrieren vor dem Haus der Kultur und Bildung (Tagungsstätte des Bezirkstages) gegen den unkontrollierten Import von Erzeugnissen aus der Bundesrepublik und für den Erhalt der LPG.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0419-027, Fotograf: Matthias Hiekel
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0503-028, Fotograf: Ralf Pätzold

3. Mai 1990, Schwerin: Während eines Informationsbesuches in der Kooperation Zierzow (Kreis Ludwigslust) spricht Ministerpräsident Lothar de Maizière mit einer Melkerin über aktuelle Probleme in der Landwirtschaft.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0503-028, Fotograf: Ralf Pätzold
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0618-307, Fotograf: Benno Bartocha

18. Juni 1990, Bezirk Neubrandenburg: Auch die Neubrandenburger Großbäckerei kann ihre Produkte nicht mehr absetzen. Deshalb werden große Mengen an Brot und Backwaren in der benachbarten LPG an Schweine verfüttert.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0618-307, Fotograf: Benno Bartocha
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Zuspitzung der ökonomischen Lage

Nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 kollabiert das bisher staatlich gelenkte Zusammenwirken von Landwirtschaft, Verarbeitungsindustrie und Handel vollends. Die Betriebe sind nicht ausreichend über die Veränderungen, die auf sie zukommen, informiert und schlecht vorbereitet. Besonders hart trifft es neben den Primärproduzenten die fleisch- und milchverarbeitende Industrie, deren Produktion aufgrund der hohen Verderblichkeit der Waren nicht einfach gestoppt werden kann. Die Kühl- und Lagerkapazitäten sind jedoch erschöpft. Dadurch kommt es mancherorts zur Vernichtung von Lebensmitteln.

Mit Einführung der Marktwirtschaft und der D-Mark erfolgt die Preisbildung nunmehr ohne staatliche Regelungen. Vor dem Hintergrund des Überangebotes an Agrarprodukten in der DDR führt das zu einem rapiden Preisverfall für DDR-Erzeugnisse. Die Preise liegen zum Teil erheblich unter dem westdeutschen Niveau, wodurch gewaltige Einnahmeverluste entstehen. Nicht nur der verminderte Absatz, sondern auch die geringen Erlöse aufgrund des Preissturzes verursachen enorme Liquiditätsprobleme in den Betrieben und sind vielfach existenzbedrohend. Die folgende Tabelle zeigt die Preisunterschiede beim Verkauf von Schlachtvieh, Milch und Getreide im Juli 1990:

Durchschnittliche Erzeugerpreise im Juli 1990

DDRBundesrepublik
1t Schlachtschwein2.000 DM2.785 DM
1t Schlachtrind2.768 DM3.307 DM
1t Rohmilch545 DM605 DM
1t Getreide300 DM325 DM
Quelle: BArch, DK 1/28126

Diese Situation ist für viele Landwirte, die an feste Abnahmemengen und stabile Preise gewöhnt waren, nicht nachvollziehbar. Im Juli und August kommt es zu massiven, teils spektakulären Protestaktionen, in denen sich die Frustration entlädt und ein Intervenieren der Regierung gefordert wird.

Ein Dokument aus dem Landwirtschaftsministerium, wo unter hohem Druck an Lösungen für diese komplexe Gemengelage gearbeitet wird, fasst die Situation im Juli 1990 folgendermaßen zusammen:

„Infolge des Absatzrückganges bei verarbeiteten Erzeugnissen, nicht ausreichender Liquidität der Verarbeitungsbetriebe und verlängerter Zahlungszeiten wurde ein Teil der im Juli abgesetzten Erzeugnisse durch die Verarbeitungsbetriebe nicht bezahlt. Das betrifft insbesondere Milch, wo bisher übliche Abschlagszahlungen durch die Molkereien nicht erfolgten und zum Teil Forderungen der Landwirtschaft aus Milchanlieferungen des Monats Juni noch nicht beglichen sind. (…) Dadurch sind Erlöse nicht geflossen in einem Umfang von 400 Mio DM. (…) Auch bei den übrigen Erzeugnissen, insbesondere Kartoffeln, Gemüse und Obst und sonstigen Leistungen der Landwirtschaft sind erhebliche Absatzstörungen, Preisminderungen sowie unbeglichene Forderungen eingetreten. (…)
In der Summe ergeben sich damit für die Landwirtschaft im Monat Juli Erlösausfälle von ca. 1,4 Mrd. DM. Das sind über 50% der für Juli vorausberechneten Erlöse von 2,7 Mrd. DM. Von den Erlösausfällen sind mindestens 0,5 Mrd. DM als unwiederbringliche Verluste anzusehen (Preisverfall, nicht vermarktete Mengen an Milch, Kartoffeln, Gemüse u.a., nicht realisierte sonstige Leistungen).“

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0710-018, Fotograf: Wolfgang Kluge

10. Juli 1990, Leipzig: Gegen die Landwirtschaftspolitik der Regierung protestieren Bauern aus zehn LPG des Kreises Geithain. Sie fordern Maßnahmen zum Schutz des Binnenmarktes und eine Anpassung der Erzeuger- und Verbraucherpreise für Fleisch, Milch und pflanzliche Erzeugnisse an das Niveau der Bundesrepublik.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0710-018, Fotograf: Wolfgang Kluge
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0711-030, Fotograf: Jürgen Sindermann

11. Juli 1990, Bezirk Rostock: Im Dorf Mecklenburg fahren Bauern ihre Schweine unmittelbar vor den Konsum des Ortes, um auf die übervollen Ställe aufmerksam zu machen. Allein im Kreis Wismar werden 26.000 schlachtreife Schweine vom Handel nicht abgenommen.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0711-030, Fotograf: Jürgen Sindermann

11. Juli 1990, Bezirk Rostock: Vor dem Konsum im Dorf Mecklenburg verkaufen die Bauern selbst das Kilogramm Schweinefleisch frisch vom Schlachthof für 5 DM.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0711-031, Fotograf: Jürgen Sindermann
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0712-014, Fotograf: Hubert Link

12. Juli 1990, Ost-Berlin: Schlachtreife Kühe und Schweine werden bis vor die Volkskammer gebracht. Beschäftigte aus fleischverarbeitenden Betrieben und der Tierproduktion protestieren damit gegen bedrohlich sinkende Absatzchancen für ihre Produkte.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0712-014, Fotograf: Hubert Link
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0712-017, Fotograf: Hubert Link

12. Juli 1990, Ost-Berlin: Sybille Reider, Ministerin für Handel und Tourismus (2.v.r.) und der Minister für Ernährung, Land- und Forstwirtstchaft, Peter Pollack (r.) im Gespräch mit den Beschäftigten aus fleischverarbeitenden Betrieben und der Tierproduktion, die schlachtreife Tiere vor die Volkskammer gebracht hatten. Sie verweisen auf den von der Regierung eingesetzten Operativstab, der gerade erst seine Arbeit aufnimmt.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0712-017, Fotograf: Hubert Link
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0827-020, Fotograf: Ralf Hirschberger

27. August 1990, Eisenach: Mit schwerer Technik blockieren 150 Bauern aus Thüringen, Hessen und Niedersachsen den ehemaligen Grenzübergang Herleshausen bei Eisenach. Sie fordern den Stopp des Ausverkaufs der Landwirtschaft in Ost und West.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0827-020, Fotograf: Ralf Hirschberger
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0710-018, Fotograf: Wolfgang Kluge

10. Juli 1990, Leipzig: Gegen die Landwirtschaftspolitik der Regierung protestieren Bauern aus zehn LPG des Kreises Geithain. Sie fordern Maßnahmen zum Schutz des Binnenmarktes und eine Anpassung der Erzeuger- und Verbraucherpreise für Fleisch, Milch und pflanzliche Erzeugnisse an das Niveau der Bundesrepublik.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0710-018, Fotograf: Wolfgang Kluge
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0711-030, Fotograf: Jürgen Sindermann

11. Juli 1990, Bezirk Rostock: Im Dorf Mecklenburg fahren Bauern ihre Schweine unmittelbar vor den Konsum des Ortes, um auf die übervollen Ställe aufmerksam zu machen. Allein im Kreis Wismar werden 26.000 schlachtreife Schweine vom Handel nicht abgenommen.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0711-030, Fotograf: Jürgen Sindermann

11. Juli 1990, Bezirk Rostock: Vor dem Konsum im Dorf Mecklenburg verkaufen die Bauern selbst das Kilogramm Schweinefleisch frisch vom Schlachthof für 5 DM.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0711-031, Fotograf: Jürgen Sindermann
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0712-014, Fotograf: Hubert Link

12. Juli 1990, Ost-Berlin: Schlachtreife Kühe und Schweine werden bis vor die Volkskammer gebracht. Beschäftigte aus fleischverarbeitenden Betrieben und der Tierproduktion protestieren damit gegen bedrohlich sinkende Absatzchancen für ihre Produkte.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0712-014, Fotograf: Hubert Link
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0712-017, Fotograf: Hubert Link

12. Juli 1990, Ost-Berlin: Sybille Reider, Ministerin für Handel und Tourismus (2.v.r.) und der Minister für Ernährung, Land- und Forstwirtstchaft, Peter Pollack (r.) im Gespräch mit den Beschäftigten aus fleischverarbeitenden Betrieben und der Tierproduktion, die schlachtreife Tiere vor die Volkskammer gebracht hatten. Sie verweisen auf den von der Regierung eingesetzten Operativstab, der gerade erst seine Arbeit aufnimmt.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0712-017, Fotograf: Hubert Link
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0827-020, Fotograf: Ralf Hirschberger

27. August 1990, Eisenach: Mit schwerer Technik blockieren 150 Bauern aus Thüringen, Hessen und Niedersachsen den ehemaligen Grenzübergang Herleshausen bei Eisenach. Sie fordern den Stopp des Ausverkaufs der Landwirtschaft in Ost und West.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0827-020, Fotograf: Ralf Hirschberger
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Regulierende Maßnahmen

Um den Preisverfall zu kompensieren, stellt das Landwirtschaftsministerium im Juli 1990 Anpassungshilfen in Höhe von 500 Mio DM in Form von Krediten bereit. Um die notwendige Umstrukturierung der Betriebe zu fördern, ist die Ausreichung dieser Anpassungshilfen an die Vorlage eines tragfähigen Anpassungs- und Sanierungskonzeptes durch die Einrichtungen gekoppelt. Diese Vorgabe sorgt für einigen Unmut, denn viele Betriebe glauben, einen pauschalen Anspruch auf Liquiditätshilfen zu haben. Viele LPG können oder wollen keine Liquiditätsnachweise vorlegen. Andere Betriebe anerkennen diese Form der Anpassungshilfe – einen staatlichen Kredit, auf den sie Zinsen zahlen müssen – generell nicht und nehmen ihn gar nicht erst in Anspruch. Da das Volumen der bereitgestellten Mittel aber ohnehin nicht ausreicht, um die Verluste aufzufangen, wird per Ministerratsbeschluss vom 18. Juli eine Aufstockung der finanziellen Mittel für die Land- und Nahrungsgüterwirtschaft festgelegt. Im Juli werden weitere 300 Mio DM und im August noch einmal 400 Mio DM Anpassungsbeihilfen aus dem Staatshaushalt bereitgestellt. Das „Konzept zur Sicherung der Liquidität der Landwirtschaftsbetriebe und zum Stand der strukturellen Anpassung an marktwirtschaftliche Erfordernisse“ sieht zur Entlastung des Marktes außerdem den verstärkten Export von Schlachtvieh und zentral organisierte Aufkäufe (Interventionen) bei Getreide, Butter und Magermilchpulver vor. Durch diese Maßnahmen soll zugleich der Preisrückgang für diese Erzeugnisse aufgehalten werden. Um sicherzustellen, dass die Unternehmen der Getreide-, Fleisch- und Milchwirtschaft einschließlich Molkereigenossenschaften die abgenommenen Erzeugnisse entsprechend dem Marktpreisniveau der Bundesrepublik an die Bauern bezahlen können, wird deren Kreditrahmen um 650 Mio DM erhöht.

Die Auszahlung der finanziellen Hilfen erfolgt (im Juli) allerdings nur schleppend. Aufgrund des ebenfalls im Umbruch befindlichen Bankensystems und Problemen innerhalb der Verwaltung erhalten einige Landwirtschaftsbetriebe die dringend benötigten Hilfen erst nach mehreren Wochen. Deswegen werden die neuen Finanzhilfen im August und September auf direktem Wege per Verrechnungsscheck übergeben.

„Anhaltende Störungen im August“

Als weitere Maßnahme wird der Handel mit der Bunderepublik ab dem 1. August vollständig liberalisiert und alle Beschränkungen werden aufgehoben. Das eröffnet zusätzliche Absatzmöglichkeiten für die Erzeugnisse, wird aber zugleich für ein weiteres Drücken der Preise im Handel mit Getreide und Vieh ausgenutzt. Auf der anderen Seite strömen immer mehr Westwaren in die DDR, so dass der Absatz einheimischer Erzeugnisse weiter stagniert. Zeitgleich beginnt die Hauptsaison der Ernte bei Kartoffeln, Gemüse und Obst. Hier zeichnen sich ebenfalls schwerwiegende Absatzprobleme ab, weil die DDR-Bürgerinnen und -Bürger die einheimischen Ernteprodukte nicht kaufen.

Daher werden in der Folge weitere Maßnahmen auf den Weg gebracht, die mittel- und langfristig zur Stabilisierung der Situation beitragen sollen. Dazu zählen beispielsweise:

  • die Gewährung von Beihilfen für die Verfütterung, Verarbeitung, Exporterstattungen und Ernteverzicht bei Kartoffeln
  • die Gewährung von Beihilfen für die Verarbeitung von Gemüse und Obst
  • Förderung privater Lagerhaltung
  • die weitere Reduzierung von Tierbeständen, z.B. durch Exporte auch in Nicht-EG Länder
  • Entwicklung von Programmen zur Direktvermarktung der Erzeugnisse und einer werbewirksamen Kampagne zum Kauf von Ost-Produkten (in Abstimmung mit dem Ministerium für Handel und Tourismus)
  • die Stilllegung von minderwertigen landwirtschaftlichen Nutzflächen

Außerdem wird ein Nachtragshaushalt beschlossen, in dem weitere Anpassungsbeihilfen in dreistelliger Millionenhöhe für den September 1990 vorgesehen sind.

Insgesamt halten in den ersten Augusttagen die Absatzstockungen an und die Preise sinken weiter. Viele der regulierenden Maßnahmen entfalten ihre Wirkung erst mit zeitlicher Verzögerung. Unterdessen wird die Stimmung unter den Landwirten immer schlechter. Zahlreiche LPG schicken Beschwerdebriefe an Ministerpräsident de Maizière und Landwirtschaftsminister Pollack. Am 15. August demonstrieren etwa 250.000 aufgebrachte Bauern in Ost-Berlin gegen die Agrarpolitik der Regierung. Minister Pollack nimmt an der Demonstration teil, es gelingt ihm jedoch nicht, zu den Protestierenden zu sprechen. Die Lage droht zu eskalieren. Günther Krause, der ebenfalls an der Demonstration teilnimmt, springt ein und kann beruhigend auf die aufgebrachte Menge einwirken. Er macht den Landwirten das Angebot, sich mit ihren Anliegen persönlich an ihn zu wenden, wovon in den folgenden Wochen rege Gebrauch gemacht wird. Am Tag nach der Demonstration wird Landwirtschaftsminister Peter Pollack von seinen Funktionen entbunden. Für wenige Tage übernimmt Staatssekretär Peter Kauffold die Amtsgeschäfte bis auch er aufgrund des Rückzugs der SPD aus der Regierungskoalition seinen Posten räumt. Für die verbleibende Zeit bis zum Beitritt wird der CDU-Abgeordnete Gottfried Haschke zum geschäftsführenden Landwirtschaftsminister ernannt. Er war bisher in der Volkskammer als Obmann der Arbeitsgruppe Landwirtschaft tätig und Mitglied des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.

Aktuelle Kamera vom 9. Juli 1990: Bericht über Absatzschwierigkeiten und Liquiditätsprobleme der Produktionsgenossenschaften.

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

Peter Pollack berichtet im Interview von den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit fehlenden Haushaltsmitteln, dem Preisverfall für ostdeutsche Erzeugnisse und Kommunikationsprobleme.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

25. Volkskammersitzung vom 19. Juli 1990: Redebeitrag von Landwirtschaftsminister Peter Pollack zu aktuellen Problemen in der Landwirtschaft.

Deutscher Bundestag

Länder Live vom 19. Juli 1990: Bericht über Absatzprobleme bei einheimischen Agrarerzeugnissen und Stilllegung von Ackerflächen.

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

Bericht aus der Sendung Aktuelle Kamera über Demonstrationen von Genossenschaftsbauern, Agrarwissenschaftlern und Fischern in Ost-Berlin sowie mehreren Bezirksstädten der DDR am 15. August 1990. Mit landesweiten Protestaktionen machen sie auf ihre schwierige Lage aufmerksam.

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

Bericht über die Demonstration der Landwirte auf dem Ostberliner Alexanderplatz.

Berliner Abendschau vom 15. August 1990.

Im August wird außerdem eine Regierungskommission zur Struktur-anpassung in der Landwirtschaft eingesetzt, die von Staatssekretär Heinemann geleitet wird. Dort werden aktuelle Probleme unter Beteiligung der Verbände bearbeitet. Alle Regierungsmaßnahmen, die im Interesse der Landwirtschaft und der Verarbeitungsindustrie noch bis zum 3. Oktober realisiert werden müssen, werden hier koordiniert. Es werden vier Arbeitsgruppen zu den Themen „Rechtssicherheit“, „Strukturanpassung“, „Liquidität“ und „Agrarmarkt“ gebildet.

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Hinweis

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