Rückkehr namibischer Flüchtlingskinder

Viele junge Namibier absolvieren in der DDR eine Berufsausbildung. Das Foto zeigt Leonhard Kandume, der 1985 in der Schuhfabrik „Banner des Friedens“ Weißenfels den Beruf des Schuhmachers erlernt. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1985-0121-002, Fotograf: Thomas Lehmann
Viele junge Namibier absolvieren in der DDR eine Berufsausbildung. Das Foto zeigt Leonhard Kandume, der 1985 in der Schuhfabrik „Banner des Friedens“ Weißenfels den Beruf des Schuhmachers erlernt. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1985-0121-002, Fotograf: Thomas Lehmann

Vor dem Hintergrund des globalen Systemwettstreits unterstützt die DDR Befreiungsbewegungen in unterschiedlichen Ländern, darunter die South-West Africa People’s Organisation (SWAPO) im afrikanischen Namibia. Dort herrschen seit Mitte der 1960er Jahre bürgerkriegsähnliche Zustände. Die DDR hilft, indem sie verletzte Namibier in der DDR medizinisch versorgt, ihnen Studienaufenthalte oder die Teilnahme an Aus- und Fortbildungsprogrammen ermöglicht. In einer akuten Krisensituation, in der die Flüchtlingslager im Nachbarland Angola keine ausreichende Sicherheit mehr bieten, bittet die SWAPO die DDR um Hilfe für Flüchtlingskinder. Daraufhin wird in einem ehemaligen Jagdschloss in Bellin (Mecklenburg-Vorpommern) kurzfristig ein Kinderheim eingerichtet. Im Dezember 1979 werden die ersten 80 namibischen Kinder ausgeflogen und in der DDR versorgt. Zu diesem Zeitpunkt gehen alle beteiligten Akteure davon aus, dass der Aufenthalt der Kinder lediglich vorübergehend und der Unabhängigkeitskampf der SWAPO bald beendet sei. Dies erweist sich als Irrtum, Namibia erlangt erst im Frühjahr 1990 endgültig die Unabhängigkeit. So bleiben die Kinder in der DDR, werden von namibischen und deutschen Erzieherinnen betreut, lernen Deutsch, gehen in den Kindergarten. Die größeren Kinder wechseln in das Internat der „Schule der Freundschaft“ in Staßfurt und absolvieren anschließend eine Berufsausbildung in der DDR. Dort wird auch auf die politisch-ideologische Ausbildung geachtet, d.h. die Jugendlichen werden als künftige sozialistische Elite des neuen Namibia herangezogen. Im Rahmen dieses Hilfsprogramms kommen bis 1989 etwa 400 namibische Kinder und Jugendliche in die DDR. Für die Durchführung ist das Ministerium für Volksbildung zuständig. Das Kinderheim ist jedoch direkt an das ZK der SED angebunden und unterliegt strenger Geheimhaltung, die erst 1989 mit Zustimmung der SWAPO-Führung aufgehoben wird. Nach der Regierungsbildung im April gelangt das Kinderheim in die Zuständigkeit des neu gebildeten Ministeriums für Bildung und Wissenschaft.

Als die Unabhängigkeit Namibias im Frühjahr 1990 konkrete Gestalt annimmt, beginnen erste Verhandlungen über den weiteren Aufenthalt und die Rückführung der namibischen Kinder und Jugendlichen. Im Zeitraum März bis Juli 1990 gibt es mehrere Initiativen mit der Republik Namibia zu einem bilateralen Abkommen für das Kinderheim Bellin zu kommen. Es finden mehrere Reisen nach Namibia bzw. in die DDR statt. Ab Mai bestehen direkte Kontakte zwischen beiden neuen Regierungen. Der namibische Bildungsminister besucht mit seinem ostdeutschen Amtskollegen sowie Vertretern des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit am 29. und 30. Mai das Kinderheim in Bellin sowie das Internat in Staßfurt. Zu diesem Zeitpunkt leben in beiden Einrichtungen etwa 430 Kinder und knapp 30 namibische Erzieherinnen.

Almuth Berger, ehemalige Staatssekretärin im Amt des Ministerpräsidenten und Ausländerbeauftragte des Ministerrates, über namibische Flüchtlingskinder.

© „Von der Revolution zum Regieren", ein Projekt des Institut für angewandte Geschichte e.V., gefördert von der Bundesstiftung Aufarbeitung, 2018-2019

Die Federführung für die Aushandlung zwischenstaatlicher Vereinbarungen liegt beim MWZ, vor allem Staatssekretär Wutzke ist in diesen Prozess involviert. Bei den weiteren Beratungen über die geordnete Rückkehr aller Kinder und Erzieher setzen sich die Vertreter der DDR dafür ein, auch das Selbstbestimmungsrecht der Schüler und ihrer Familien zu berücksichtigen. Bis Anfang Juli 1990 gehen die Verhandlungspartner davon aus, dass die Vorschulkinder bis Jahresende 1990 zurückgebracht werden, damit sie zum Schulbeginn im Januar 1991 in Namibia eingeschult werden können. Für die bereits schulpflichtigen Kinder sollen Möglichkeiten geprüft werden, ob sie ihre Schulausbildung noch in der DDR beenden können.

Rückführung namibischer Flüchtlinge von Berlin nach Windhoek im Juli 1989. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-0717-041, Fotograf: Hartmut Reiche
Die UNO führt 1989 eine weltweite Aktion zur freiwilligen Rückführung namibischer Flüchtlinge durch. Auch Namibier, die in der DDR studieren oder eine Berufsausbildung erhalten, kehren über dieses Programm bereits im Juli 1989 in ihre Heimat zurück. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-0717-041, Fotograf: Hartmut Reiche

Am 13. Juli wird die Botschaft der DDR in Windhoek (Hauptstadt Namibias) offiziell darüber informiert, dass der namibische Bildungsminister einen Beschluss zur sofortigen Rückkehr aller Kinder gefasst hat. Mit der Durchführung auf namibischer Seite wird das Komitee für Repatriierung, Wiederansiedlung und Wiederaufbau (Committee for Repatriation, Resettlement and Reconstruction) des namibischen Kirchenrates beauftragt. Bei den daraufhin einsetzenden organisatorischen Abstimmungen geht es vor allem um Fragen der Finanzierung, der Betreuung in Namibia unmittelbar nach der Rückkehr, der Zusammenführung mit Familienangehörigen sowie der Integration in das dortige Schulsystem. Die Rückführung wird schließlich für Ende August 1990 vereinbart. In mehreren Etappen werden alle Kinder und Jugendlichen zunächst mit Bussen zum Flughafen Frankfurt/Main gebracht, von wo aus sie nach Windhoek geflogen werden. Auf der Reise werden sie von den namibischen Erzieherinnen betreut, die ebenfalls zurückkehren müssen. Von Seiten der DDR begleiten Vertreter des MWZ, darunter Staatssekretär Wutzke sowie Vertreter des Solidaritätsdienstes, den Rücktransport. In Namibia werden sie offiziell durch Vertreter der SWAPO, des Außen- und Bildungsministeriums, des namibischen Kirchenrates und des RRR-Komitees in Empfang genommen. Staatssekretär Wutzke ist für die Übergabe der Kinder an die zuständigen staatlichen Stellen verantwortlich. Er führt Gespräche mit Präsident Sam Nujoma, Bildungsminister Nahas Angula und dem namibischen Kirchenrat über Hilfsprogramme für die Wiedereingliederung der Kinder und Jugendlichen. Von den 430 Kindern bzw. Jugendlichen werden 347 von Eltern oder Verwandten aufgenommen. Die übrigen werden von den ebenfalls zurückgekehrten Erzieherinnen bis Jahresende 1990 in zwei Internaten weiter betreut. Insgesamt stellt die Integration der ehemaligen Flüchtlingskinder den neu gegründeten Staat Namibia vor große strukturelle und bildungspolitische Herausforderungen.

Unterdessen ist die Zukunft der verbliebenen deutschen Lehrer bzw. Erzieher zunächst unklar. Letztlich wird das Kinderheim Bellin geschlossen und die Arbeitsverträge zum 31. Dezember 1990 aufgelöst. Das Inventar wird an verschiedene Einrichtungen verschenkt, beispielsweise an eine Hilfsschule mit angegliedertem Internat für lernbehinderte Kinder oder eine Klinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie in Schwerin.

Oswald Wutzke erinnert sich im Interview an Hilfsaktionen des MWZ im Rahmen der Katastrophenhilfe sowie die Rückführung namibischer Kinder in ihr Heimatland im August 1990.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Schliessen Modal Schließen Modal Schließen

Hinweis

Schliessen Modal Schließen Modal Schließen