Grundlinien der Entwicklungspolitik

Mit der Regierungsbildung wird das Ressort für wirtschaftliche Zusammenarbeit neu geschaffen. Damit entsteht erstmals ein zentrales Ministerium zur Durchführung entwicklungspolitischer Maßnahmen. Durch die Kompetenzübertragung der bisher dezentral durchgeführten Entwicklungshilfeprojekte an das Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit ist es notwendig, neue Grundsätze für diese Arbeit zu definieren. Es werden Grundlinien erarbeitet, die auf eine „humane, solidarische und entideologisierte Entwicklungshilfepolitik“ abzielen, wie es in einem Konzeptpapier des MWZ vom Mai 1990 formuliert ist.

Eine Orientierung für die Erarbeitung der neuen Leitlinien bietet die erste Regierungserklärung von Ministerpräsident Lothar de Maizière vom 19. April 1990, in der es mit Blick auf die Probleme der Entwicklungsländer heißt: „Die eigentlichen Probleme in unserer Welt – wir wissen es alle – sind nicht die deutsch-deutschen oder die Ost-West-Probleme. Die eigentlichen Probleme bestehen in der strukturellen Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd.“ Die DDR-Regierung bekennt sich zur Mitverantwortung bei der Lösung globaler Probleme. In diesem Sinne ist bereits in der Koalitionsvereinbarung vom 12. April 1990 die Verpflichtung der DDR festgehalten worden, eine „gerechtere Weltwirtschaftsordnung zu errichten, Rüstungsexporte abzubauen und zu Verständnis und Toleranz zwischen den Kulturen beizutragen.“

Am 1. Juni 1990 wird für die Entwicklung der neuen Grundlinien eine Arbeitsgruppe im MWZ eingesetzt, die von Staatssekretär Graewe geleitet wird. Die Beschlussvorlage über die Grundlinien der Entwicklungspolitik der DDR wird vom Ministerrat am 18. Juli 1990 bestätigt. Inhaltlich greift das Dokument wichtige Überlegungen des Entwicklungspolitischen Runden Tisches (ERT) auf, der seit Februar 1990 tagt und auf eine gemeinsame Initatiative von Walther Bindemann (Leiter der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg), Wolf-Dieter Graewe und Hans-Joachim Döring (INKOTA-Netzwerk) zurückgeht. Der Entwicklungspolitische Runde Tisch ist ein Gesprächsforum, in dem sich Vertreter der offiziellen staatlichen Stellen mit kirchlichen Initiativen, Dritte-Welt-Gruppen und einigen in der Entwicklungshilfe engagierten Westdeutschen, darunter Matthias Weiter (Mitarbeiter des BMZ bzw. der GTZ), über die Politik gegenüber Entwicklungsländern austauschen. Die dort diskutierten Positionen und Ansätze prägen – nicht zuletzt aufgrund der personellen Verflechtungen – die Arbeit des MWZ. Als Staatssekretär nimmt Graewe genau wie Minister Ebeling weiterhin an den Zusammenkünften des ERT teil, die im Mai und Juni 1990 stattfinden. Der Entwicklungspolitische Runde Tisch besteht über die Zeit der Wiedervereinigung hinaus und beendet seine Tätigkeit erst 1994.

Ministerratsbeschluss über die Grundlinien der Entwicklungspolitik der DDR vom 18. Juli 1990. Quelle: BArch, DC 20/I/3/3028
Grundlinien der Entwicklungspolitik

Ministerratsbeschluss über die Grundlinien der Entwicklungspolitik der DDR vom 18. Juli 1990.

Quelle: BArch, DC 20/I/3/3028
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Ziele und Grundsätze

Als Ziel der neuen Entwicklungspolitik formuliert das Grundsatzpapier „die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen in den Entwicklungsländern und die Entfaltung ihrer schöpferischen Fähigkeiten, somit auch die Hilfe zur Selbsthilfe.“ Das entwicklungspolitische Handeln soll auf partnerschaftlichen Grundlagen unabhängig von Ideologien und Weltanschauungen erfolgen. Dabei werden die unterschiedlichen Gegebenheiten, sozio-kulturellen Besonderheiten, Interessen und Erwartungen der Entwicklungsländer berücksichtigt und das Selbstbestimmungsrecht der Länder geachtet. Umgesetzt wird die Entwicklungszusammenarbeit in enger Abstimmung mit der Wirtschafts- und Außenpolitik.

Für Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit will die DDR künftig 0,7 % ihres Bruttosozialproduktes aufwenden. Die Mittel sollen vorrangig zur Bekämpfung von Armut und der Sicherung elementarer Grundbedürfnisse eingesetzt werden, wobei eine größtmögliche Einbindung der lokalen Bevölkerung in die Entwicklungsprozesse angestrebt wird. Die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe ist eines der Hauptziele von Minister Ebelings neuer Entwicklungshilfepolitik. In diesem Sinne soll auch der Aufbau leistungsfähiger Volkswirtschaften in den Entwicklungsländern, die regionale Zusammenarbeit der Entwicklungsländer untereinander sowie ihre Integration in den Weltmarkt gefördert werden. Darüber hinaus wird gemeinsam mit staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen die entwicklungspolitische Bildungsarbeit innerhalb der DDR gestärkt, um die Bevölkerung für die kritische Lage in den Entwicklungsländern zu sensibilisieren. Dafür werden Informationszentren eingerichtet und pädagogische Materialien erarbeitet. Das Grundsatzpapier enthält darüber hinaus Überlegungen zur Lösung der Schuldenproblematik und für ein stärkeres Engagement der DDR bei den Vereinten Nationen.

Als fachliche Schwerpunkte der Entwicklungszusammenarbeit werden folgende Bereiche benannt:

  • Bildungswesen (Alphabetisierung, grundlegende Bildung sowie Förderung der Berufsaus- und Weiterbildung)
  • Gesundheitswesen (personelle und materielle Unterstützung der medizinischen Versorgung und beim Aufbau medizinischer Einrichtungen; Weiterbildungen von medizinischem Personal in der DDR)
  • Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung in Verbindung mit Umwelt- und Ressourcenschutz (Ausbildungsförderung; Entwicklung landwirtschaftlicher Technologien und Produktionsverfahren, die den länderspezifischen Bedingungen Rechnung tragen; Ressourcensicherung bspw. durch Maßnahmen zur Wiederaufforstung und zum Bodenschutz)
  • Industrie, Handwerk und Gewerbe (Aufbau eigener Kapazitäten für die Gewinnung und Eigenverarbeitung einheimischer Rohstoffe sowie Warenproduktion für den Binnenmarkt; Erschließung und Nutzung natürlicher Ressourcen; Förderung betrieblicher Kooperationen)

Die Grundlinien stellen eine wichtige Orientierung und ein Instrument für das künftige entwicklungspolitische Handeln der DDR dar. Aufgrund der Dynamik im Einigungsprozess stößt das Grundsatzpapier jedoch weder in der Öffentlichkeit noch im bundesdeutschen Partnerministerium auf große Resonanz.

Weitere Instrumente der Entwicklungspolitik

Neben der technischen und finanziellen Zusammenarbeit spielt die Förderung von Entwicklungshilfeaktivitäten durch nichtstaatliche Organisationen, Gruppierungen und Unternehmen eine große Rolle. Um diese Instrumente der Entwicklungspolitik zu stärken, stellt das MWZ Fördermittel zur Verfügung. Bestehende und neugegründete Nichtregierungsorganisationen erhalten im August und September 1990 eine Anschubfinanzierung. Darüber hinaus fördert das MWZ entwicklungspolitische Initiativen der mittelständischen Industrie, beispielsweise beim Technologietransfer. Dazu vergibt es Darlehen zur Mitfinanzierung von Studien, die der Vorbereitung von Joint Ventures oder der Übertragung angepasster neuer Technologien dienen.

Insgesamt stellt das MWZ für die Förderung von Nichtregierungsorganisationen und entwicklungspolitischer Bildungsarbeit im zweiten Halbjahr 1990 etwa 6,4 Mio DM bereit.

Zur Durchführung der Entwicklungszusammenarbeit und zur Sicherung des Experteneinsatzes in laufenden Projekten werden zwei Organisationen neu geschaffen und dem Ministerium nachgeordnet:

  • Die Deutsche Agentur für Entwicklungszusammenarbeit (DAZ) wird als gemeinnützige GmbH gegründet. Sie geht aus den bisherigen Strukturen des staatlichen Außenhandelsbetriebs intercoop hervor, der bisher für die Entsendung von Fachkräften und Experten zuständig war. Die DAZ wird vollständig aus dem Etat des MWZ finanziert, das für die Abwicklung von entwicklungspolitischen Maßnahmen, zu denen sich die DDR in völkerrechtlichen Verträgen verpflichtet hat, für das 2. Halbjahr 1990 13,5 Mio DM zur Verfügung stellt.
  • Es wird ein Entwicklungshelferdienst (EHD) eingerichtet, der temporär alle notwendigen Aufgaben zur Weiterführung der Projektarbeit übernimmt, insbesondere die Betreuung der ehemals von der FDJ organisierten Brigaden der Freundschaft. Er ist als Übergangslösung konzipiert und befristet bis zum 31. Dezember 1990 tätig. Der EHD wird ebenfalls aus dem Haushalt des MWZ finanziert.

Diese beiden Organisationen sichern vorübergehend die Arbeitsplätze und Lohnfortzahlung des in Entwicklungsländer beschäftigten DDR-Personals. Die neuen Strukturen sollen außerdem die Überleitung der Aktivitäten der DDR in eine gesamtdeutsche Entwicklungspolitik erleichtern.

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