Neue Pressepolitik

Anfang des Jahres 1989 erscheinen in der DDR 39 Tageszeitungen. Damit gehört die DDR zu den Ländern mit der höchsten Pro-Kopf-Dichte an Printmedien weltweit. Eine Vielfalt an Meinungen resultiert daraus jedoch nicht, da die Schwerpunkte der Berichterstattung staatlich vorgegeben und kontrolliert werden. Die zentrale medienpolitische Lenkung erfolgt durch das Sekretariat für Agitation und Propaganda beim ZK der SED. Auf lokaler Ebene überprüfen die sogenannten Ämter für Information und örtliche Parteigliederungen die Einhaltung der Richtlinien.
Die zwei wichtigsten und auflagenstärksten Zeitungen der DDR sind 1989 das „Neue Deutschland“ (ND) und die „Junge Welt“ (JW). Erstere fungiert als Parteiorgan der SED, in dem auch über die Entscheidungen der Staats- und Parteiführung berichtet wird. In der „Jungen Welt“, die vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (FDJ) herausgegeben wird, finden sich vor allem Artikel, die sich an Jugendliche und junge Erwachsene richten sollen. Parallel zum „Neuen Deutschland“ gibt die SED in allen 14 Bezirken und Ost-Berlin regionale Tageszeitungen heraus. Dazu gehören unter anderem die „Berliner Zeitung“, die „Lausitzer Rundschau“ (Cottbus) oder die „Sächsische Zeitung“ (Dresden). Zudem erscheinen 14 regionale und vier überregionale Zeitungen, die von den Blockparteien herausgegeben werden, wie etwa die „Neue Zeit“ (CDU) oder die „Thüringische Landeszeitung“ (LDPD). Neben den Tageszeitungen gibt es Wochenzeitungen wie die „Wochenpost“ und Branchen-, Jugend- und Freizeitmagazine, wie die „Armeerundschau“, die „Neue Fußballwoche“ (FUWO) oder das Comic-Heft „Mosaik“.
Aufgrund der knappen Papierzuteilungen und teilweise geringen Auflagen sind sowohl Zeitungen als auch Zeitschriften sehr begehrt und nur schwer zu bekommen. Kleine Freiheiten für eine kritische Berichterstattung gibt es nur im Bereich der kirchlichen Zeitungen, während der als illegal eingestufte Samisdat in der DDR keinerlei Rücksichten nehmen muss. Sowohl kirchliche Zeitungen als auch Samisdat erreichen aufgrund ihrer geringen Reichweiten nur eine kleine Öffentlichkeit.

Die ehemalige SED-Bezirkszeitung „Das Volk“ erscheint ab dem 16. Januar 1990 als unabhängige Tageszeitung unter dem Namen „Thüringer Allgemeine“.
Die ehemalige SED-Bezirkszeitung „Das Volk“ erscheint ab dem 16. Januar 1990 als unabhängige Tageszeitung unter dem Namen „Thüringer Allgemeine“. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0114-017, Fotograf: Heinz Hirndorf

Während der Proteste im Herbst 1989 gehört die Durchsetzung der Presse- und Medienfreiheit zu den zentralen Forderungen der Demonstranten. Infolgedessen kommt es im Winter 1989/90 zu erheblichen Umwälzungen in der Presselandschaft der DDR. Zahlreiche Redaktionen der etablierten Zeitungen beginnen das medienpolitische Diktat der SED abzulehnen und sich selbst zu reformieren. Gleichzeitig gründen sich neue Zeitungen, Verlage und Zeitschriften, die die neu errungene Freiheit nutzen wollen. Doch auch Verleger aus Westdeutschland sehen die DDR als neue Absatzmöglichkeit und drängen mit ihren Produkten auf den Markt. Die neue Pressefreiheit bringt aber auch Probleme mit sich. So erscheint beispielsweise bereits im Januar 1990 in Leipzig die rechtsradikale Wochenzeitung „Der Montag“.

Um die neue Medienlandschaft zu regulieren und neue Publikationen hinsichtlich ihres Inhaltes zu überprüfen, müssen Vertrieb und Registrierung neu organisiert werden. Eine große Herausforderung stellt die Neuregelung der Vertriebsstrukturen von Presseerzeugnissen dar. Bis Februar 1990 regelt der staatlich kontrollierte Postzeitungsvertrieb (PVZ) den flächendeckenden Vertrieb von insgesamt:

  • 783 Presseerzeugnissen der DDR
  • 257 Presseerzeugnissen des sozialistischen Wirtschaftsgebietes
  • 193 Presseerzeugnisse aus anderen Ländern

Für den Vertrieb im Abonnement, im Einzelverkauf und im Großhandel ist die Post der DDR zuständig. Im Einzelverkauf verfügt die Post über ein Monopol, das Ende 1989 insgesamt 1.697 Verkaufsstellen des PVZ, 9.777 Verkaufsstellen anderer Handelseinrichtungen sowie 4.500 Schalter in Poststellen- und ämtern umfasst. Mit dem am 5. Februar 1990 von der Volkskammer verabschiedeten Beschluss zur Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit wird das Vertriebsmonopol des PVZ aufgelöst. Der Beschluss sieht unter anderem folgende Regelungen beim Pressevertrieb vor:

  • Zulässigkeit des Eigenvertriebs durch die Herausgeber
  • Verpflichtung, inländische Presseerzeugnisse ab einer Auflage von 500 Exemplaren zu vertreiben

Zudem müssen neue Presseerzeugnisse, die über den PVZ vertrieben werden sollen, nicht mehr staatlich lizensiert, sondern lediglich beim Ministerium für Medienpolitik registriert werden.

Konflikte um den Pressevertrieb in der DDR

Bereits im Dezember 1989 vereinbaren Hans Modrow und Helmut Kohl bei einem gemeinsamen Treffen in Dresden den Austausch von Presseerzeugnissen zwischen beiden deutschen Staaten. Infolgedessen beraten die vier westdeutschen Großverlage Bauer, Burda, Gruner+Jahr und Springer mit den Ministerien für Post- und Fernmeldewesen und Kultur sowie dem Presse- und Informationsdienst der DDR in geheimen Verhandlungen über den Aufbau eines Vertriebssystems in der DDR. Bereits Ende Januar 1990 erzielen die DDR-Verhandlungspartner mit den westdeutschen Verlagen eine Übereinkunft, die unter anderem eine Liste mit 100 Presseerzeugnissen umfasst, die über das neue System vertrieben werden sollen. Wenige Tage später werden die Pläne für das Joint-Venture öffentlich.

Nicht nur der Runde Tisch, sondern auch die mittelständischen Verlage in Ost und West empfinden die Pläne als Einschränkung der Pressefreiheit und fordern Alternativen. Auf Einladung des Runden Tisches muss sich der damalige Minister für Post- und Fernmeldewesen, Klaus Wolf, gegen Proteste verteidigen. Er habe, so die Vorwürfe, trotz seiner Kenntnis von den Verhandlungen über den Medienbeschluss eine Einigung mit den westdeutschen Verlagen weiter vorangetrieben.

Auf der 11. Sitzung des Runden Tisches am 5. Februar 1990 werden Fragen des zukünftigen Pressevertriebes in der DDR debattiert. Im Bild der damalige Postminister Klaus Wolf (M.), Moderator Karl-Heinz Ducke (l.) und der stellvertretende Regierungssprecher Ralf Bachmann (r.).
Auf der 11. Sitzung des Runden Tisches am 5. Februar 1990 werden Fragen des zukünftigen Pressevertriebes in der DDR debattiert. Im Bild der damalige Postminister Klaus Wolf (M.), Moderator Karl-Heinz Ducke (l.) und der stellvertretende Regierungssprecher Ralf Bachmann (r.). Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0212-027, Fotograf: Hartmut Reiche

Mit der Verabschiedung des Medienbeschlusses durch die Volkskammer am 5. Februar 1990 werden sowohl das Vertriebsmonopol der Deutschen Post als auch das geplante Joint-Venture endgültig beendet. Trotzdem erscheinen zu dieser Zeit bereits zahlreiche westdeutsche Titel in der DDR. Die Preisbildung und Vertriebskanäle werden jedoch kaum kontrolliert. Um diesen Zustand zu beenden, werden Mitte Februar 1990 auf Initiative der Bundesregierung alle Interessensgruppen nach Bonn zu Verhandlungen eingeladen. Ziel der Gespräche ist die Entwicklung eines gesamtdeutschen Pressevertriebssystems, das auch für die Zeit nach der Wiedervereinigung nutzbar ist.

Parallel dazu läuft in der DDR der Wahlkampf für die Volkskammerwahl am 18. März 1990. Diese Situation wird von den vier westdeutschen Großverlagen ausgenutzt, die ihre Produkte ab dem 5. März 1990 über ein verlagseigenes Vertriebssystem verbreiten. Nur wenige Tage darauf beschließt der Ministerrat Richtlinien für den Vertrieb und Verkauf von ausländischen Presseerzeugnissen in der DDR. Diese legen fest, dass die Post der DDR für Vertrieb und Verkauf zuständig ist. Damit verstößt das private Vertriebssystem der Verlage gegen die Bestimmungen des Ministerrates. Dieses Vorgehen wird jedoch toleriert, da die verlagsunabhängigen DDR-Großhändler nicht über die erforderlichen Kapazitäten für einen flächendeckenden Vertrieb von westlichen Presseerzeugnissen verfügen. Zudem steht die Volkskammerwahl unmittelbar bevor.

Gottfried Müller berichtet über die Herausforderungen bei der Einrichtung eines unabhängigen Pressevertriebes in der DDR.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Der Verkauf der Presseprodukte erfolgt gemäß interner Absprachen zunächst zu einem Preis im Verhältnis 3:1. Aufgrund von Kooperationen mit Druckfirmen aus der DDR sowie dem harten Konkurrenzkampf sinken die Preise für westliche Presserzeugnisse im Mai 1990 auf einen Kurs von 1:1. Die DDR-Presse kann im Wettbewerb nur schwer mithalten. Zudem werden ab dem 1. April 1990 alle staatlichen Subventionen und die Papierkontigentierungen gestrichen, sodass alle Tageszeitungen ihren Verkaufspreis von 15 auf 50 Pfennig erhöhen müssen. Dies führt zu einer kurzfristigen Kündigung von etwa 3,6 Millionen Abonnements für Zeitungen und Zeitschriften.
Das am 13. April 1990 eingerichtete Ministerium für Medienpolitik soll im Zuge dieser Entwicklungen vor allem für Rahmenbedingungen sorgen, die einen gleichberechtigten Zugang aller Presseerzeugnisse zu den Vertriebsstrukturen gewährleisten soll. Eine Verordnung, die am 2. Mai 1990 auf der 4. Ministerratssitzung beschlossen wird, soll den Vertrieb von Presseerzeugnissen neu regeln. Demnach sind folgende Körperschaften zum Vertrieb berechtigt:

  • Der Postzeitungsvertrieb (PZV) der Deutschen Post im eigenen Vertriebsnetz
  • Private Pressegrossisten, die ihren Firmensitz in der DDR haben
  • Verlage, die ihren Firmensitz in der DDR haben, zum Eigenvertrieb in der Abonnementsbelieferung
  • Vertriebsunternehmen, die ihren Firmensitz in der DDR haben, zur Abonnementsbelieferung mit einem einzelnen Presseerzeugnis

Zudem legt die Verordnung fest, dass das MfM über den Beginn des Vertriebes informiert werden muss und diesen auch untersagen kann, wenn die entsprechende Veröffentlichung gegen bestimmte Grundsätze verstößt. Des Weiteren dürfen sich Unternehmen, deren Geschäftstätigkeit ganz oder teilweise im Verlag von Zeitungen und Zeitschriften besteht, nicht im Großhandel betätigen. Damit verstößt das von den westdeutschen Verlagen eingerichtete Vertriebssystem weiterhin gegen die gesetzlichen Bestimmungen der DDR. Zwar sieht die Verordnung die Möglichkeit zur Erteilung einer Sondergenehmigung vor, doch ein entsprechender Antrag der westlichen Verlage wird von Minister Müller abgelehnt. Da die DDR-Großhändler zu diesem Zeitpunkt nach wie vor nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen und die Verhandlungen in Bonn bisher ergebnislos sind, läuft der verlagseigene Vertrieb unvermindert weiter.

Ende Juni, kurz vor dem Inkrafttreten des Niederlassungsgesetzes, das auch ausländischen Betrieben Gewerbefreiheit in der DDR garantiert, gründen die vier westdeutschen Großverlage insgesamt zwölf eigene Grosso-Unternehmen in der DDR. Bis zur Wiedervereinigung wird die gesamte Auflage über die neuen Grosso-Unternehmen verbreitet, an denen die Verlage Beteiligungen besitzen. Da die Verlage ihren Firmensitz jedoch nicht in die DDR verlagern, verstößt das Vertriebssystem weiterhin gegen die Gesetze der DDR. Parallel zum Aufbau der privaten, von westdeutschen Firmen dominierten Vertriebe, gründet sich Ende Juli ein Interessensverband aus 16 verlagsunabhängigen DDR-Grosso-Unternehmen. Dieser übernimmt den Vertrieb aller Presseerzeugnisse, die nicht von den zwölf Vertriebsunternehmen der westdeutschen Verlage ausgeliefert werden.
Trotz gegensätzlicher gesetzlicher Regelungen und wettbewerbsrechtlicher Bedenken läuft das duale System bis August 1992 weiter. Erst dann wird ein Beschluss vom 1. November 1990 umgesetzt, der eine Aufteilung des Vertriebsgebietes in neun Grosso-Betriebe für die Großverlage und zehn unabhängige Grosso-Bertriebe vorsieht.

Entwicklungen auf dem Pressemarkt

Gelände des Checkpoint Charlie in Berlin-Mitte mit Werbung für die ehemalige CDU-Zeitung "Neue Zeit" im April 1992
Gelände des Checkpoint Charlie in Berlin-Mitte mit Werbung für die ehemalige CDU-Zeitung „Neue Zeit“ im April 1992. Quelle: Bundesregierung / Kühler

Im Jahr 1990 entstehen zwischen 40 und 50 neue Zeitungen in der DDR, von denen jedoch fast alle dem harten Konkurrenzkampf auf dem Pressemarkt zum Opfer fallen. Heute existieren nur noch vier der damals neu gegründeten Zeitungen, wie der „Oranienburger Anzeiger“ oder die „Altmark-Zeitung“. Doch nicht nur neugegründete, sondern auch zahlreiche etablierte Zeitungen müssen erhebliche Rückgänge ihrer Verkaufszahlen verkraften oder ihr Erscheinen sogar komplett einstellen. Dies liegt zum einen am Wettbewerb auf dem Zeitungsmarkt, zum anderen aber auch am Verlust der Glaubwürdigkeit, verursacht durch die jahrzehntelange Kooperation mit der SED.
Diese Entwicklung schlägt sich in der monatlich vom Ministerium für Medienpolitik herausgegebenen Pressestatistik nieder. Die letzte im September 1990 erstellte Statistik weist folgende Werte aus:

Überregional erscheinende Zeitungen:

ZeitungHöhe der Auflage im September 1990 Verluste seit Jan. 1990 in Prozent
Berliner Zeitung333.50027
Junge Welt283.70085
Neues Deutschland234.60080

Regional erscheinende Zeitungen:

ZeitungHöhe der Auflage im September 1990
Freie Presse Chemnitz603.200
Mitteldeutsche Zeitung528.000
Sächsische Zeitung523.000
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