Stabilisierung des Gesundheitswesens

Unter dem Eindruck des allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs findet Ende September 1989 die 1. Nationale Gesundheitskonferenz der DDR statt, auf der offen über die Krise im Gesundheitssystem diskutiert wird. Zwar ist der Standard im DDR-Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen sozialistischen Staaten als gut zu bewerten, dies kann aber über die vorhandenen großen Defizite nicht hinwegtäuschen. Als Hauptmängel werden auf der Konferenz die instabile Versorgung mit medizinischem Verbrauchsmaterial, der veraltete Bau- und Ausrüstungszustand vieler Einrichtungen, die Zweiklassenmedizin für die Funktionärselite, der Personalmangel und die Unterbezahlung im Pflegesektor benannt. Auch Phänomene wie Massenalkoholismus und falsche Ernährungsgewohnheiten sowie gesundheitsschädigende Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen werden thematisiert. Konkrete Maßnahmen zur Reduzierung der Missstände werden auf der Konferenz jedoch nicht in die Wege geleitet. Und auch die massenhafte Abwanderung von Fachkräften in den Sommermonaten 1989 wird trotz der neuen Offenheit nicht problematisiert. Dabei sind die Auswirkungen überall zu spüren und finden ihren Niederschlag auch in offiziellen Dokumenten. So heißt es in einer Auswertung des des Instituts für Medizinische Statistik und Datenverarbeitung:

„Mit Stand vom 30.09.1989 gab es in der DDR 41.544 Ärzte, 12.802 Zahnärzte und 4.342 Apotheker. Das entspricht einem Betreuungsgrad von 400 Einwohnern je Arzt bzw. 1299 Einwohner je Zahnarzt. Damit sind die Betreuungsrichtwerte bis 1990 im DDR-Maßstab zwar erfüllt, jedoch können noch nicht alle Bezirke auf befriedigende Betreuungsgrade verweisen, […]. Im Vergleich zum 30. Juni 1989 sind in allen Bezirken erhebliche Abgänge (1033 Ärzte, 402 Zahnärzte und 60 Apotheker) zu vermelden. […] Die höchsten Abgangsraten per 30.09.1989 wurden aus den Bezirken Berlin (169 Ärzte und 69 Zahnärzte), Dresden (117 Ärzte und 43 Zahnärzte), Leipzig (107 Ärzte und 40 Zahnärzte), Karl-Marx-Stadt (86 Ärzte und 25 Zahnärzte) sowie Erfurt (82 Ärzte und 41 Zahnärzte) gemeldet.“

Damit ist klar, dass die wichtigste Aufgabe für die Verantwortlichen im Gesundheits- und Sozialwesen darin besteht, die medizinische Versorgung der Bevölkerung auch weiterhin sicherzustellen. Ein Teil der Verluste kann, wie es im gleichen Dokument formuliert wird, durch Absolventen aus den Hochschulen kompensiert werden. Zusätzlich werden ab Dezember 1989 in allen Bezirken 2.000 NVA-Angehörige im Gesundheitswesen eingesetzt.

Soforthilfe aus der Bundesrepublik

Mit dem Mauerfall im November 1989 eröffnen sich den Akteuren im Gesundheitswesen neue Handlungsmöglichkeiten. Auf lokaler Ebene entstehen zahlreiche Partnerschaften zwischen Krankenhäusern in Ost und West. Durch diese Kontakte erfahren die Kliniken in der DDR in den kommenden Monaten breite Unterstützung auf materieller und personeller Basis. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz und der Bundesregierung wird außerdem ein Soforthilfeprogramm initiiert, das bereits im Februar 1990 mit dem zu dieser Zeit amtierenden DDR-Gesundheitsminister Klaus Thielmann abgestimmt wird. Im Ergebnis stellt die Bundesregierung der DDR 500 Millionen DM für den Kauf von Arzneimitteln, hochspezialisierter Medizintechnik, medizinischen Verbrauchmaterialien und Rehabilitationstechnik zur Verfügung. In enger Abstimmung mit den Ärzten wird der Bedarf an Arzneimitteln erfasst. Das betrifft vor allem Präparate, die in der DDR nicht ausreichend selbst produziert oder wegen Devisenmangel nicht importiert werden können. Bei den Hilfslieferungen, die im April 1990 beginnen, geht es also vorrangig um eine Bedarfsdeckung. Das Deutsche Rote Kreuz stellt Hilfesets zusammen, die den Bedarf für drei Monate decken sollen, d.h. es sind vier Lieferungen für das Jahr 1990 geplant. Je nach Bedarf werden ein oder mehrere dieser Sets an die Versorgungsdepots für Pharmazie und Medizintechnik verschickt, die es in jedem Bezirk der DDR gibt. Von dort werden sie an die jeweiligen Kliniken, Polikliniken und Ambulatorien verteilt. Die Sets beinhalten neben Medikamenten vor allem Verbrauchsmaterialien wie Katheder, Spritzen, Infusionsbestecke, OP-Handschuhe, Mullkompressen und -tupfer, Einmalgebrauchswindeln, Pflaster und Netzverbände. Darüber hinaus werden medizin-technische Geräte in die DDR geliefert, darunter Defibrillatoren, Langzeitbeatmungsgeräte, Ultraschallschnittbildgeräte, Krankenhausbetten, Klosettstühle, Infusionsständer und Instrumententische. Der Transport der Hilfslieferungen erfolgt gemeinsam durch Einheiten der Bundeswehr und der NVA, wobei die Fahrzeuge als zum Roten Kreuz zugehörig gekennzeichnet und die Begleitmannschaften in zivil gekleidet sind.

Hausmitteilung vom 28. Februar 1990. Quelle: BArch, DQ 1/15034
Hausmitteilung

Hausmitteilung des Ministeriums für Gesundheits- und Sozialwesens vom 28. Februar 1990 über medizinische Hilfeleistungen für die DDR aus der Bundesrepublik.

Quelle: BArch, DQ 1/15034
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Die ehemalige Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ursula Lehr, schildert im Interview ihre Bemühungen um Soforthilfen für das DDR-Gesundheitssystem, das 1989/90 mit vielen Versorgungsengpässen zu kämpfen hatte.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Die ehemalige Bundesministerin für Innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms, berichtet von den bundesdeutschen Hilfeleistungen für das Gesundheits- und Sozialwesen der DDR.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Im Interview erinnert sich die ehemalige Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ursula Lehr an den Besuch eines Altenheims in der Nähe von Heiligenstadt.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015
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