Das Sozialhilfegesetz

Die Familienpolitik wird von einem Sozialpaket flankiert, das in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Arbeit und Soziales, dem Ministerium für Gesundheitswesen und dem Ministerium für Finanzen entsteht. Ein zentraler Bestandteil des Sozialpaketes ist das Sozialhilfegesetz, das im MfFF federführend erarbeitet wird und die wirtschaftliche und soziale Sicherung von Familien gewährleisten soll. Es wird am 21. Juni 1990 in der Volkskammer verabschiedet und tritt gleichzeitig mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 in Kraft. Damit wird in der DDR ein System der Sozialhilfe eingeführt, das (mit einigen Einschränkungen) dem Sozialhilfesystem der Bundesrepublik entspricht. Mit dem Sozialhilfegesetz werden finanzielle Hilfen zum Lebensunterhalt gewährt, die ein Existenzminimum in Notlagen sichern. Sozialhilfe kann in Anspruch nehmen, wer aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann, in besonderen Lebenslagen hilfebedürftig ist oder dessen finanzielle Situation nicht durch andere Sozialleistungen (wie Rente oder Arbeitslosengeld) gesichert ist. Dies gilt auch für ausländische Bürgerinnen und Bürger, die sich auf dem Gebiet der DDR aufhalten und in Notsituationen geraten sind.

Die Sozialhilfe wird auf Antrag und bei nachgewiesener Bedürftigkeit in Form von Geld- oder Sachleistungen bzw. persönlicher Hilfe (Beratung) bewilligt. Sie umfasst

  • Hilfe zum Lebensunterhalt, die den notwendigen Bedarf für Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens abdeckt, und
  • Hilfe in besonderen Lebenslagen, wie z.B. bei Behinderung, Krankheit oder Alter.

Es gibt einmalige Hilfen und dauerhafte Leistungen. Die Höhe der Zahlungen richtet sich nach der Größe des Haushaltes bzw. der familiären Situation, dem Alter und der Region. Auch bestehende Ansprüche auf Leistungen anderer Sozialträger werden berücksichtigt. Die Berechnung der Regelsätze erfolgt durch das Ministerium für Familie und Frauen in Abstimmung mit dem Ministerium der Finanzen unter Berücksichtigung der tatsächlichen Lebenshaltungskosten. Die Mehrbedarfszuschläge werden auf Grundlage der Regelsätze festgesetzt.

Zuständig für die Gewährung von Sozialhilfe sind örtliche Träger in den Gemeinden, kreisfreien Städten, Stadtbezirken und Landkreisen. Zur Finanzierung der Sozialhilfe werden für das zweite Halbjahr 1990 rund 0,5 Milliarden DM, für das Jahr 1991 1 Milliarde DM bereitgestellt. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 300.000 Bürgerinnen und Bürger Anspruch auf Sozialhilfe haben. Nachweislich gibt es bereits im August 1990 zwischen 15.000 und 18.000 Sozialhilfeempfänger in der DDR.

Quelle: Gesetzblatt der DDR 1990, Teil I, Nr. 35
Sozialhilfegesetz

Gesetz über den Anspruch auf Sozialhilfe vom 21. Juni 1990.

Quelle: Gesetzblatt der DDR 1990, Teil I, Nr. 35
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Christa Schmidt erinnert sich im Interview an die Einführung des Sozialhilfegesetzes im Juli 1990.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Ministerin Christa Schmidt begründet in der Volkskammer das Sozialhilfegesetz in der 12. VK-Sitzung am 8. Juni 1990.

Deutscher Bundestag

Beitrag über die bevorstehende Einführung des Sozialhilfegesetzes aus der Sendung Aktuelle Kamera vom 12. Juni 1990.

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

Bericht über die zum 1. Juli 1990 eingeführte Sozialhilfe und die neue Kindergeldpauschale aus der Sendung Aktuelle Kamera vom 10. August 1990.

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

Sozialfürsorge und Wohlfahrtspflege

Mit Inkrafttreten des Sozialhilfegesetzes tritt zugleich die Sozialfürsorgeverordnung der DDR von 1979 außer Kraft. Diese hatte bisher bestimmten Personengruppen in der DDR Unterstützung gewährt. Insgesamt spielt diese Form der Sozialfürsorge jedoch nur eine geringe Rolle: Das Statistische Jahrbuch der DDR verzeichnet für das Jahr 1989 lediglich 5.535 Empfänger von dauerhaften Unterstützungsleistungen sowie 77.264 einmalige Beihilfen. Wesentlich wichtiger für die soziale Sicherung der Bürgerinnen und Bürger sind die Wohlfahrtsorganisationen. Zur freien Wohlfahrtspflege in der DDR zählen allen voran die Volkssolidarität, das Diakonische Werk, der Caritasverband und das Deutsche Rote Kreuz. Mit den wirtschaftlichen und politischen Reformen ändern sich auch für diese Organisationen die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit. Deshalb ist diesen freien gesellschaftlichen Kräften mit Artikel 32 ein eigener Abschnitt im Einigungsvertrag gewidmet. Darin heißt es: „Die Verbände der Freien Wohlfahrtpflege und die Träger der Freien Jugendhilfe leisten mit ihren Einrichtungen und Diensten einen unverzichtbaren Beitrag zur Sozialstaatlichkeit des Grundgesetzes. Der Auf- und Ausbau einer Freien Wohlfahrtspflege und einer freien Jugendhilfe in dem in Artikel 3 genannten Gebiet wird im Rahmen der grundgesetzlichen Zuständigkeiten gefördert.“

Volkssolidarität

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-U0104-050, Fotograf: Helmut Schaar
Eine Hauswirtschaftspflegerin der Volkssolidarität versorgt ein Rentnerehepaar in Suhl in der Wohnung mit warmem Mittagessen (Januar 1979). Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-U0104-050, Fotograf: Helmut Schaar

Eine der wichtigsten Hilfsorganisationen der DDR ist die im Oktober 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gegründete Volkssolidarität. Seit den 1970er Jahren konzentriert sich ihre Arbeit unter dem Motto „Tätigsein – Geselligkeit – Fürsorge“ auf die Betreuung älterer Menschen. Die Volkssolidarität ist eine Massenorganisation, der 1988 mehr als zwei Millionen Mitglieder angehören und die 631 Klubs bzw. Wohngebietstreffs in der gesamten DDR betreibt. Über 200.000 ehrenamtliche Mitarbeiter – sogenannte Volkshelfer – kümmern sich um die Belange älterer und hilfebedürftiger Menschen. Zu den Aufgaben, die sie wahrnehmen, zählen vor allem Hilfeleistungen und Betreuung im Haushalt (Hauswirtschaftspflege und Nachbarschaftshilfe), die soziale und kulturelle Betreuung (Chöre, Sport- , Wander-, Handarbeitsgruppen) sowie die Versorgung mit warmen Mittagessen. In den Ortsgruppen, Klubs und Treffpunkten der Volkssolidarität arbeiten die meisten der ehrenamtlichen Volkshelfer. Diese stark lokal geprägte Organisation trägt ungeachtet aller zentralen Einflüsse durch Staat und SED wesentlich dazu bei, die Lebensqualität für ältere Bürgerinnen und Bürger in der DDR zu sichern.

Mit den politischen Veränderungen 1989/90 ändern sich für die Volkssolidarität die Anforderungen sowohl an die Arbeit im Mitgliederverband als auch in den Bereichen Soziale Dienste und der sozialpolitischen Interessenvertretung. Zu Beginn, im Herbst 1989, steht der Zentralausschuss der Volkssolidarität den gesellschaftlichen Umbrüchen skeptisch gegenüber. Mit den personellen Veränderungen ab Dezember 1989 beginnt jedoch auch innerhalb der Organisation ein Prozess des Umdenkens. Vertreter der Volkssolidarität arbeiten in den folgenden Monaten am Runden Tisch und in der Volkskammer mit und entwickeln Strategien zur Umgestaltung der Organisation entsprechend den Bedingungen einer freien Wohlfahrtspflege. Das inhaltliche und organisatorische Profil wird reformiert. Auf einer außerordentlichen Delegiertenkonferenz gibt sich die Volkssolidarität am 26./27. Mai 1990 eine neue Satzung, in der sie sich als „gemeinnützige, parteipolitisch und konfessionell unabhängige, selbständige Organisation“ definiert. Außerdem werden neue Arbeitsgrundsätze beschlossen und eine neue Leitungsspitze (Präsident und Vorstand) gewählt. Im Zuge der Anpassung an die Wohlfahrtsstrukturen der Bundesrepublik wird mit der Reorganisation der internen Strukturen begonnen. Es bilden sich neue Landesverbände und eine Vielzahl von Kreis- und Stadtverbänden auf Vereinsbasis. Bestehende Wohngebietstreffs und Veteranenstellen werden in Abstimmung mit dem Ministerium für Familie und Frauen in Sozialstationen umgewandelt. Die strukturelle Reorganisation wird von finanziellen und personellen Problemen begleitet. Aufgrund fehlender Mittel für Löhne und Gehälter wird im Sommer 1990 allen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bis hinunter auf Kreisebene gekündigt. Gleichzeitig verliert der Verband massenhaft Mitglieder und ehrenamtliche Mitarbeiter. Die Gründe für den Schwund sind vielfältig. Formale Mitgliedschaften werden aufgelöst (z.B. Verpflichtung von Arbeitskollektiven) und viele Ehrenamtliche ziehen sich zurück, wodurch die innerorganisatorische Arbeit nicht aufrechterhalten werden kann. Außerdem entstehen neue Organisationen im Wohlfahrtsbereich mit eigenen Strukturen, was teilweise zu einem Wechsel der Mitgliedschaften führt. Im Dezember 1990 tritt die Volkssolidarität dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, einem der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege der Bundesrepublik, bei.

Mitgliedsbuch der Volkssolidarität mit Beitragsmarken. Quelle: Privatarchiv Heidenreich
Mitgliedsbuch der Volkssolidarität mit Beitragsmarken. Quelle: Privatarchiv Heidenreich

Der Mitgliederschwund setzt sich auch nach der Wiedervereinigung fort. So sinkt die Zahl von über zwei Millionen Mitgliedern 1989 auf nur noch 853.000 Mitglieder im Jahr 1991. Von den rund 200.000 ehrenamtlichen Helfern sind 1991 noch 45.000 tätig. Diese Entwicklung führt zu ernsthaften Überlegungen, den Verband aufzulösen. Mit großem Engagement setzt man sich jedoch für den Erhalt des Verbandes ein, um den älteren Menschen die gewohnten Betreuungsleistungen gewähren und sie beim Übergang in das neue soziale Leistungsgefüge begleiten zu können. Die Beratungsarbeit erhält in dieser Zeit ein stärkeres Gewicht, wenngleich die sozialen und pflegerischen Dienstleistungen weiterhin zu den Hauptaktivitäten zählen. Außerdem kommen neue Tätigkeitsfelder hinzu: Die Volkssolidarität übernimmt viele Kindergärten, Jugendclubs sowie Begegnungs- und Familienzentren und führt sie in freier Trägerschaft weiter. Sie nimmt darüber hinaus die sozialpolitische Interessenvertretung von Senioren verstärkt wahr. Trotz einiger Anlaufschwierigkeiten im vereinten Deutschland gelingt es der Volkssolidarität, sich als wichtiger Akteur in der freien Wohlfahrtspflege zu etablieren.

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