Streit um Fristenregelung

Im Zuge der Verhandlungen um die deutsche Einheit und der Angleichung beider Rechtssysteme rückt das Thema Schwangerschaftsabbruch schlagartig in den Fokus der Öffentlichkeit und der politischen Diskussion. In der DDR ist die Abtreibung im Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 9. März 1972 geregelt. Es enthält eine Fristenregelung, die es Frauen ermöglicht, innerhalb von zwölf Wochen nach dem Beginn einer Schwangerschaft eigenverantwortlich über deren Abbruch zu entscheiden. Diese liberale Haltung ist innerhalb der DDR-Gesellschaft akzeptiert und wird als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Frau verstanden. Dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in der Koalitionsvereinbarung vom April 1990 wider, die das Thema Schwangerschaftsabbruch berücksichtigt und die Beibehaltung der Fristenlösung festschreibt. Die Entscheidung über die Austragung oder den Abbruch einer Schwangerschaft soll nach wie vor allein den Frauen vorbehalten bleiben. Die Regierung will durch „umfangreiche Beratungs-, Aufklärungs- und Unterstützungsangebote sowie kostenlose Bereitstellung der Kontrazeptiva für Frauen“ unerwünschte Schwangerschaften vermeiden helfen. Außerdem sollen die sozialen und materiellen Rahmenbedingungen für die Erziehung der Kinder so gestaltet werden, dass in der Gesellschaft eine positive Einstellung zu Familie und Kind gefördert wird.

Obwohl der Standpunkt der neuen Regierung eindeutig ist, besteht im Zuge der Rechtsangleichung aufgrund des bevorstehenden Beitritts der DDR zur Bundesrepublik auf einmal die Möglichkeit, dass die bundesdeutsche Regelung zum Schwangerschaftsabbruch auf das Gebiet der DDR ausgedehnt wird. In der Bundesrepublik ist der Schwangerschaftsabbruch unter Strafe gestellt und die legale Unterbrechung nur unter den Bedingungen einer sozialen oder gesundheitlichen Notlage erlaubt. Die Details regelt §218 des Strafgesetzbuches, der selbst in der Bundesrepublik umstritten ist und seit den 1970er Jahren von der neuen Frauenbewegung bekämpft wird. Vor allem konservative und kirchliche Kreise setzen sich medienwirksam für die Übernahme des §218 ein. Dagegen formiert sich früh Widerstand durch Frauenorganisationen, parteiübergreifende Initiativen, Gewerkschaften und Verbände. Auch das Ministerium für Familie und Frauen schaltet sich in die Debatte um den §218 ein und macht sich für die Übernahme der Fristenlösung in eine gesamtdeutsche Gesetzgebung stark.

Flugblatt mit Aufruf zur Demonstration gegen §218 am 22. April 1990. Quelle: BArch, DY 53/869
Flugblatt

Flugblatt mit Aufruf zur Demonstration gegen die Einführung des bundesdeutschen §218. Die Aktion findet bereits am 22. April 1990 vor der Volkskammer in Ost-Berlin statt. Dazu aufgerufen haben Frauenverbände und andere gesellschaftliche Organisationen und Parteien, die sich mit den Forderungen der Frauen solidarisieren.

Quelle: BArch, DY 53/869
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Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0422-013, Fotograf: Klaus Oberst

Demonstration gegen die Einführung des § 218 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches, der den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, im Berliner Lustgarten und vor der Volkskammer am 22. April 1990.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0422-013, Fotograf: Klaus Oberst
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0422-012, Fotograf: Klaus Oberst

Demonstration gegen die Einführung § 218 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches, der den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, im Berliner Lustgarten und vor der Volkskammer am 22. April 1990.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0422-012, Fotograf: Klaus Oberst
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0422-013, Fotograf: Klaus Oberst

Demonstration gegen die Einführung des § 218 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches, der den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, im Berliner Lustgarten und vor der Volkskammer am 22. April 1990.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0422-013, Fotograf: Klaus Oberst
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0422-012, Fotograf: Klaus Oberst

Demonstration gegen die Einführung § 218 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches, der den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, im Berliner Lustgarten und vor der Volkskammer am 22. April 1990.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0422-012, Fotograf: Klaus Oberst
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Im ersten Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom Mai 1990 spielt das Thema Schwangerschaftsabbruch keine Rolle. Das hängt auch damit zusammen, dass Fraueninteressen und -belange in diesem Vertrag insgesamt nur marginal berücksichtigt werden. Im Verlauf der weiteren Wochen nimmt die öffentliche und politische Diskussion jedoch an Fahrt auf und an Schärfe zu. Vertreter sowohl aus der katholischen wie aus der evangelischen Kirche fordern die Aufhebung der in der DDR geltenden gesetzlichen Regelungen. Massive Unterstützung erfahren sie dabei aus konservativen politischen Kreisen der Bundesrepublik. Familienministerin Christa Schmidt spricht sich unter Verweis auf den offiziellen Regierungsstandpunkt immer wieder für die Beibehaltung der bestehenden Fristenregelung aus. Auch Arbeits- und Sozialministerin Regine Hildebrandt sowie Gesundheitsminister Jürgen Kleditzsch treten massiv für den Erhalt der bestehenden Regelung ein. Der Unabhängige Frauenverband führt eine Unterschriftenaktion durch, in der 17.000 Stimmen gegen die Einführung des §218 gesammelt und der Volkskammer am 21. Juni 1990 öffentlich übergeben werden. Im Petitionsausschuss der Volkskammer gehen darüber hinaus unzählige Briefe, Eingaben und Sammelpetitionen mit Stellungnahmen zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs ein. Auch das Ministerium für Familie und Frauen erhält Tausende Briefe und Postkarten, die überwiegend das Fortbestehen des Gesetzes über den Schwangerschaftsabbruch unterstützen. Aber auch die Abtreibungsgegner organisieren massen- und medienwirksame Unterschriftensammlungen und übermitteln diese an das Ministerium und Ministerpräsident Lothar de Maizière.

In der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch treffen zwei höchst unterschiedliche Haltungen aufeinander. In der DDR wird dem Selbstbestimmungsrecht der Frau ein hoher Wert beigemessen, die in dieser Frage eine sehr persönliche Entscheidung zu treffen hat. Die Bemühungen des Staates zielen hier darauf ab, die Rahmenbedingungen für Frauen so zu verbessern, dass sie eine Entscheidung für die Austragung der Schwangerschaft befördern. Demgegenüber treten konservative und kirchliche Kreise der Bundesrepublik mit Verweis auf das christliche Gebot „Du sollst nicht töten“ für den unbedingten Schutz des ungeborenen Lebens ein. Die individuelle Situation der schwangeren Frau spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Hinter diesen Einstellungen stehen nicht nur zwei unterschiedliche Frauenbilder. Es spielen auch die Unterschiede in Ost und West bei der Organisation der Kinderbetreuung, den Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frauen eine wichtige Rolle.

Keine abschließende Regelung im Einigungsvertrag

Die Diskussionen in Politik und Medien werden sehr emotional geführt. In beiden deutschen Staaten gibt es Demonstrationen, Hungerstreiks und Unterschriftenaktionen. Bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag kann sich indes keine der beiden Positionen durchsetzen. Es wird der Kompromiss geschlossen, dass die bisherigen Regelungen in Ost und West weiter gelten. Das heißt, die Fristenlösung, so wie sie in der DDR besteht und praktiziert wird, bleibt nach dem Beitritt auf dem Gebiet der neuen Bundesländer bestehen. In den alten Bundesländern behält die dort bestehende Indikationsregelung ebenfalls ihre Gültigkeit. Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Bundestages bis zum 31. Dezember 1992 eine gemeinsame Lösung für den Schwangerschaftsabbruch zu finden. Darüber hinaus einigt man sich darauf, auf dem Gebiet der DDR ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen für schwangere Frauen aufzubauen. Im Juli 1992 werden schließlich mit dem Schwangeren- und Familiengesetz die neuen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch beschlossen, die im Wesentlichen eine legale Abtreibung in Verbindung mit einer ausführlichen Beratung ermöglichen.

Christa Schmidt schildert im Interview die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch in der DDR und die Auseinandersetzungen um dieses Thema im Zuge des deutschen Einigungsprozesses.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Redebeitrag der Ministerin für Familie und Frauen, Christa Schmidt in der 23. Volkskammersitzung am 12. Juli 1990 zum kostenlosen Schwangerschaftsabbruch in der DDR und den Diskussionen im Zuge der Rechtsangleichung zwischen beiden deutschen Staaten.

Deutscher Bundestag

Hans Geisler, parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für Familie und Frauen, zur Fristenlösung.

© "Von der Revolution zum Regieren", ein Projekt des Institut für angewandte Geschichte e.V., gefördert von der Bundesstiftung Aufarbeitung, 2018-2019

Beitrag über eine Demonstration für die Beibehaltung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch und gegen die Einführung des §218 im geeinten Deutschland aus der Sendung Aktuelle Kamera vom 16. Juni 1990.

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv
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