Hoch- und Fachschulwesen

Auch in den 54 Universitäten und Hochschulen der DDR, die vollständig in das einheitliche sozialistische Bildungssystem integriert sind, sind Reformen unausweichlich. Insbesondere die Gesellschafts- und Sozialwissenschaften sind von der marxistisch-leninistischen Ideologie durchdrungen. Tendenziell geringer fällt der ideologische Einfluss in den Natur- und Technikwissenschaften aus, doch auch hier gibt es Zielvorgaben und Beschränkungen. Die Durchsetzung der Freiheit in Wissenschaft, Forschung und Lehre sowie die damit einhergehende Entideologisierung gehören demnach zu den wichtigsten Anliegen der Reformierung des Hochschulwesens und der Wissenschaftslandschaft. Als einer der ersten Schritte schafft bereits die Regierung Modrow das in allen Universitäten obligatorische marxistisch-leninistische Grundlagenstudium zum Wintersemester 1989/90 ab.

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0409-025, Fotograf: Waltraud Grubitzsch
Am 9. April 1990 hält der westdeutsche Professor Dr. Kurt Biedenkopf seine erste Vorlesung als Gastprofessor an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach der Wiedervereinigung wird Kurt Biedenkopf der erste Ministerpräsident von Sachsen. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0409-025, Fotograf: Waltraud Grubitzsch

In der Folge werden die dafür zuständigen Sektionen bzw. Institute für Marxismus-Leninismus aufgelöst. Zugleich werden Neugründungen von Sektionen, beispielsweise für Politik-, Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften, beantragt. In diese sollen Planstellen und Lehrstühle der bisherigen Marxismus-Leninismus-Sektionen übernommen und das dazugehörige Hochschulpersonal neu berufen werden. Aufgrund der Umbruchssituation entfällt jedoch die übliche Berufungsrunde im Februar 1990. Erst unter einer neuen – demokratisch legitimierten – Regierung und einem neuen Minister soll dies erfolgen. In den Universitäten und Hochschulen wird unterdessen darüber diskutiert, endlich Personen zu berufen, die trotz ihrer wissenschaftlichen Leistungen bisher übergangen worden sind. Als Hans Joachim Meyer im April 1990 sein Amt als Bildungs- und Wissenschaftsminister antritt, sind daher alle Sektionen Marxismus-Leninismus bereits formal aufgelöst. Es besteht jedoch der rechtliche Schwebezustand, dass für die neu gegründeten Sektionen bisher keine Änderung der Lehrstühle (Bezeichnung, Inhalt, Zahl) ministeriell bestätigt worden ist. Dies bietet Minister Meyer die Möglichkeit, Abberufungen durchzuführen, was den Weg zur demokratischen Erneuerung des Hochschulpersonals ebnet und die alte sozialistische Kaderpolitik de facto beendet. So werden per Ministerratsbeschluss am 23. Mai 1990 die Lehrstühle und Dozenturen für Marxismus-Leninismus aufgehoben und die Hochschullehrer – 257 Professoren und 349 Dozenten mit Stand vom 26. April 1990 – abberufen. Die Berufungsgebiete der Lehrstühle und Dozenturen sollen inhaltlich neu bestimmt, in einem öffentlichen Verfahren ausgeschrieben und bis September 1990 neu besetzt werden. Für die betroffenen Hochschullehrer greifen unterschiedliche arbeitsrechtliche Regelungen, wie beispielsweise Überleitungsverträge oder Vereinbarungen zu Ruhestands- und Berentungsregelungen. Außerdem wird ihnen die Möglichkeit eingeräumt, sich erneut um eine Berufung zu bewerben. Diese Maßnahme ruft Kritik hervor, die zum Teil auf der Behauptung gründet, verdiente Kader würden sich so kurz vor Ende der DDR ihre berufliche Existenz sichern. Gegen diesen Vorwurf, der medienwirksam auch von bundesdeutschen Wissenschaftlern und Politikern formuliert wird, muss sich Minister Meyer immer wieder wehren.

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0830-019, Fotograf: Waltraud Grubitzsch
Seit dem 30. August 1990 können sich Bewerber aus Ost und West für einen Studienplatz an der Karl-Marx-Universität Leipzig einschreiben. In der gesamten DDR immatrikulieren sich zum Studienjahr 1990/91 annähernd 35.000 Studenten für ein Hochschuldirektstudium. Das sind ca. 9.000 Studierende mehr als der ursprüngliche „Plan“ vorgesehen hatte. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0830-019, Fotograf: Waltraud Grubitzsch

Um die Bedenken aus dem Weg zu räumen, setzt er sich dafür ein, alle Berufungsvorschläge öffentlich bekannt zu machen, so dass die Anträge in den Gremien und Fakultäten der Universitäten eingehend beraten werden können. Außerdem werden sämtliche Vorschläge im Ministerium selbst geprüft. Eigens zu diesem Zweck wird der Göttinger Jurist und Staatssekretär im Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Prof. Hans-Ludwig Schreiber, als Fachmann ins MfBW geholt. Aufgrund der knappen Zeit werden bis September 1990 weniger als ein Drittel der Stellen, die durch Abberufungen frei geworden sind, neu besetzt. Zugleich werden durch die inhaltliche Neuausrichtung der Geistes-, Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften für das Studienjahr 1990/91 gut zwei Dutzend völlig neue Studiengänge angeboten, beispielsweise Sozialpädagogik und Betriebswirtschaft.

Vorläufige Hochschulordnung

Darüber hinaus findet im Zuge demokratischer Wahlen an vielen Universitäten der DDR ein personeller Wechsel auch auf Leitungsebene und in den Studentenvertretungen statt. Neu gewählte Rektoren lösen die alte Leitung ab. Die Studierenden werden nicht mehr durch die FDJ, sondern durch Repräsentanten neu gewählter Studentenreferate vertreten. Durch die Erneuerungsprozesse in den Universitäten und Hochschulen wird die bisherige Leitungsstruktur faktisch aufgehoben. Ziel der Bildungspolitik von Minister Meyer ist es, die akademische Eigenverantwortung und Selbstverwaltung zu stärken und die Freiheit von Forschung und Lehre sicherzustellen. Dies soll mit einer vorläufigen Hochschulordnung geschehen, die Rahmenbedingungen für die Wahl einer neuen Leitungsstruktur innerhalb der Hochschulen setzt und dabei vor allem auf die Stärkung des akademischen Mittelbaus zielt. Die Verordnung wird jedoch erst nach der Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 18. September 1990 vom Ministerrat beschlossen, was eine weitere Abstimmung mit Bund und Kultusministerkonferenz nötig macht. In den Nachverhandlungen zum Einigungsvertrag kann schließlich der Kompromiss erzielt werden, dass die vorläufige Hochschulordnung als zu übernehmendes DDR-Recht seine Gültigkeit für die Zeit von drei Jahren behält. Innerhalb dieser Frist sollen die neuen Länder jeweils neue, eigene Hochschulgesetze erarbeiten, die kompatibel mit dem Bundeshochschulrahmengesetz sind. Damit wird gewährleistet, dass die Länder ausreichend Zeit zur Debatte, Entscheidungsfindung und Erneuerung der Hochschulen haben.

Die vorläufige Hochschulordnung umfasst detaillierte Regelungen zu den Bereichen Lehre und Studium, Zugangsberechtigungen und zu erwerbende Abschlüsse, Personal, zur Selbstverwaltung und Organisation der Hochschule. Sie gewährleistet die Zurücknahme von Besonderheiten des bisherigen Hochschulwesens der DDR und enthält Bestimmungen zur staatlichen Anerkennung von Hochschuleinrichtungen in freier Trägerschaft. Insgesamt sichert die Verordnung die Durchsetzung der Grundsätze der Freiheit von Kunst und Wissenschaft sowie Forschung, Lehre und Studium und schafft die notwendigen Rahmenbedingungen für die Erneuerung der Hochschulen im vereinigten Deutschland. Alle weitergehenden Entscheidungen bezüglich der Neustrukturierung der Universitäten und Hochschulen finden nach der Wiedervereinigung in der Verantwortung der einzelnen neu eingesetzten Länderregierungen statt. Darunter fällt beispielsweise auch die Entscheidung, die im jeweiligen Land liegenden Hoch- und Fachschulen als Einrichtungen des Landes weiterzuführen oder abzuwickeln.

Hans Joachim Meyer spricht über die Reformbestrebungen an den Universitäten seit den Umbrüchen 1989 und die Stärkung der akademischen Selbstverwaltung, die Hochschulverordnung vom August 1990 und den Regelungen für die Universitäten im Einigungsvertrag.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Hans Joachim Meyer ist ab August 1990 auch Minister für Forschung und Technologie und somit für die Akademie der Wissenschaften und ihre Institute zuständig. Im Interview erinnert er sich an den Erneuerungsprozess in den Hochschulen und Akademien und die Umgestaltung der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft.

Finanzielle Situation der Studierenden

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0426-025, Fotograf: Heinz Hirndorf
Vom 26. – 28. April 1990 kampieren Studierende in Zelten auf dem Herderplatz in Weimar, um auf die prekäre Wohnheimsituation aufmerksam zu machen, die sich im Vereinigungsprozess zuzuspitzen droht. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0426-025, Fotograf: Heinz Hirndorf

Die in Folge der bevorstehenden Währungs- und Wirtschaftsunion zu erwartende Steigerung der Lebenshaltungskosten gefährdet viele Studierende in ihrer sozialen Existenz. Daher drängen die Studenten bereits seit dem Frühjahr 1990 auf eine Erhöhung ihrer Stipendien. Aufgrund der angespannten Haushaltslage können jedoch keine zusätzlichen Mittel aus dem Staatshaushalt bereitgestellt werden. Hilfe kommt aus dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft mit dem Vorschlag, die Bundesausbildungsförderung (BAföG) zum 1. Juli 1990 auf das Gebiet der DDR auszudehnen. Daraufhin beschließt der Ministerrat mit einer entsprechenden Anordnung am 13. Juni 1990 Sofortmaßnahmen zur Neugestaltung der Ausbildungsförderung. Die Stipendienanordnung tritt am 1. Juli in Kraft und enthält für den Zeitraum Juli bis Dezember 1990 unter anderem folgende Regelungen:

  • Alle Studenten erhalten ein elternunabhängiges Grundstipendium von 280 DM monatlich.
  • Der Grundbetrag kann in Abhängigkeit vom Elterneinkommen auf bis zu 450 DM steigen.
  • Die Grundstipendien für Forschungsstudenten und Aspiranten werden auf 700 DM erhöht.
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0607-024, Fotograf: Bernd Settnik
Während der Fragestunde in der Volkskammer am 7. Juni 1990 werfen demonstrierende Studenten Flugblätter in den Plenarsaal. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0607-024, Fotograf: Bernd Settnik

Die Studenten sind jedoch über die Abhängigkeit der Höhe des Stipendiums vom Elterneinkommen derart verärgert, dass es im Juni zu landesweiten Protesten kommt. Vor der Volkskammer finden mehrtägige Sitzstreiks statt. In der Folge beschäftigt sich eine aktuelle Stunde in der Volkskammer mit der sozialen und finanziellen Situation der Studenten in der DDR. Im Einigungsvertrag wird Ende August festgelegt, dass regulär zum 1. Januar 1991 das Bundesausbildungsförderungsgesetz auf dem Gebiet der neuen Länder zur Anwendung kommt.

Für die ausländischen Studierenden in der DDR wird eine zusätzliche Regelung mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst getroffen. Dieser erklärt sich bereit, die bisherigen Stipendien zu übernehmen und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um ein Staatsstipendium oder ein SED-Parteistipendium handelt. Dadurch ist es den rund 7.000 Studierenden aus 76 Ländern möglich, ihr in der DDR begonnenes Studium im vereinten Deutschland abzuschließen.

Aktuelle Stunde zur künftigen sozialen und finanziellen Absicherung der Studenten der DDR während der 14. Volkskammersitzung am 15. Juni 1990. Zu Beginn verliest die Volkskammerpräsidentin eine Resolution der Studenten.

Deutscher Bundestag

Redebeitrag von Minister Hans Joachim Meyer im Anschluss an die Aktuelle Stunde während der 14. Volkskammersitzung am 15. Juni 1990.

Deutscher Bundestag

Errichtung von Studentenwerken

Die Verordnung über die Errichtung von Studentenwerken vom 18. September 1990 bildet eine weitere Grundlage für die Angleichung der Struktur des Hochschulwesens der DDR an die der Bundesrepublik. Auf dieser Grundlage ist es möglich, unverzüglich mit der Bildung von Studentenwerken auf dem Gebiet der DDR zu beginnen. Zugleich bildet sie die Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der Studentenwerke in den neuen Ländern nach dem Beitritt bis neue landesgesetzliche Regelungen erarbeitet sind.

Aufgabe der zu errichtenden Studentenwerke ist es, als gemeinnützige Einrichtungen die Lebensbedingungen der Studierenden sozial verträglich zu gestalten. So sind sie beispielsweise künftig zuständig für Verpflegung, studentisches Wohnen, Kinderbetreuung, Gesundheitsfürsorge und psychologische Beratung sowie kulturelle Angebote. Darüber hinaus übernehmen die Studentenwerke die Durchführung der staatlichen Ausbildungsförderung, die ab dem 1. Januar 1991 die bisherige Stipendienregelung ablöst. Im Grunde werden mit der Verordnung alle Aufgaben der wirtschaftlichen, sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Betreuung der Studierenden aus dem Verantwortungsbereich der Universitäten, Hoch- und Fachschulen herausgelöst und selbstständigen Studentenwerken übertragen. Die Verordnung regelt weiterhin die Rechtsstellung, Zuständigkeiten, Verwaltungsstruktur, Wirtschaftsführung und Finanzierung der Studentenwerke. Auf dieser Grundlage wird noch im September 1990 mit dem Aufbau von Studentenwerken an den Standorten Berlin (Ost), Cottbus, Chemnitz, Dresden, Jena, Greifswald, Halle, Leipzig, Magdeburg, Potsdam und Rostock begonnen.

Zukunft der Fachschulen

Neben den Universitäten und Hochschulen gibt es in der DDR 1989 auch 234 Fachschulen mit 153.400 Studierenden, davon sind 58 technische Fachschulen mit 51.250 Studenten. In der Industrie sind insgesamt 310.800 Fachschulabsolventen beschäftigt. Um die Perspektive der Fachschulen zu klären, führt das Ministerium Beratungen mit Fachschulvertretern und bundesdeutschen Experten durch, um Kriterien für eine Differenzierung zwischen Fachschulen und Einrichtungen der höheren Berufsbildung zu definieren. Künftig soll es in Analogie zur Bundesrepublik Fachhochschulen geben. Diese können entweder aus bestehenden Fachschulen oder durch Umwandlung von Hochschulen bzw. Spezialhochschulen gebildet oder neu gegründet werden. Erste Pilotprojekte zur Entwicklung von Fachhochschulen werden vor der Vereinigung auf den Weg gebracht.

Die dafür notwendige Rechtsgrundlage wird mit der Verordnung über Fachschulen vom 12. September 1990 geschaffen, welche die Anpassung des Fachschulwesens der DDR an das der Bundesrepublik unter Beachtung der Beschlüsse und Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz gewährleistet. Darin werden Festlegungen zur Stellung der Fachschulen, den Zugangsbedingungen, zu Inhalt, Umfang und Dauer des Fachschulstudiums sowie zum Prüfungswesen getroffen. Die Verordnung stellt sicher, dass bis zum Erlass eigener gesetzlicher Grundlagen der Gestaltung und Leitung der Fachschulbildung durch die Länder kein rechtsfreier Raum eintritt. Die Verordnung schafft ferner eine Rechtsgrundlage zur staatlichen Anerkennung von Fachschulen in freier Trägerschaft.

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Hinweis

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