Allgemeinbildende Schulen

Während der Friedlichen Revolution wird in den Oppositionsgruppen und Gesprächskreisen auch die Schulpolitik diskutiert. Eltern, Schüler und Vertreter der Kirchen treten öffentlich für die Abschaffung des obligatorischen Wehr- und Staatsbürgerkundeunterrichts ein. Mit Erfolg. Nach dem Rücktritt der langjährigen Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, weist die Übergangsregierung unter Hans Modrow im Dezember 1989 offiziell die Aussetzung des Unterrichts in Wehrerziehung für die 9. und 10. Klassen an den allgemeinbildenden Schulen an. Der Lehrplan für Staatsbürgerkundeunterricht wird für nicht verbindlich erklärt und der Geschichtsunterricht stark entideologisiert. Außerdem schafft die Modrow-Regierung den Schulunterricht am Sonnabend ab.

Nach der Regierungsbildung im April 1990 wird die Neuausrichtung der Schulbildung weiter vorangetrieben. Dabei spielt die Entflechtung von Politik und Schule sowohl auf organisatorischer als auch inhaltlicher Ebene eine zentrale Rolle. Die angestrebten Veränderungen wirken insbesondere darauf hin, die pädagogischen Freiräume und Entscheidungsmöglichkeiten des einzelnen Lehrers zu erweitern, den Lehrplan zu entideologisieren sowie Eltern und Schülern eine Mitwirkung an der Gestaltung der Schulpolitik zu ermöglichen.

Infolge der gesellschaftlichen Umbrüche geht auch der Einfluss der Jugendorganisationen in den Schulen massiv zurück. Die Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ für Kinder, die der FDJ angegliedert ist, löst sich auf. Wer 1990 neu eingeschult wird, legt nicht mehr das „Pionierversprechen“ ab und wird kein Jungpionier mehr. Auch Fahnenappelle und Pionier-Nachmittage an den Schulen entfallen. Die übrige Freizeitgestaltung außerhalb des Unterrichts – Hort, Interessenszirkel, Arbeitsgemeinschaften – wird auf eine neue Grundlage gestellt.

Hans Joachim Meyer fasst rückblickend die wichtigsten Maßnahmen der Reformierung der Schulpolitik zusammen, die bis September 1990 umgesetzt werden konnten.

Bundesstiftung Aufarbeitung, 2015

Einführung föderaler Strukturen und Mitwirkungsgremien

Auf der Ebene der Organisation des Schulwesens werden die zentralistischen Strukturen aufgebrochen und mehr Mitbestimmungsrechte etabliert. Dafür sind Wahlen zu Schul- und Elternräten vorgesehen sowie die Stellen der Schuldirektoren neu zu besetzen. An diesem Erneuerungsprozess sollen die Kommunen aktiv mitwirken, weshalb Bildungsminister Meyer zunächst die Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 abwartet. Danach leitet er folgende Schritte zur Entwicklung föderaler Strukturen ein:

  • Am 23. Mai 1990 bestätigt der Ministerrat den „Beschluss zur Abberufung und zur Ernennung von Direktoren der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen, der Sonderschulen, der kommunalen, betrieblichen und genossenschaftlichen Einrichtungen der Berufsbildung“.
  • Am 30. Mai 1990 werden die „Verordnung über Mitwirkungsgremien und Leitungsstrukturen im Schulwesen“ sowie die „Verordnung über die Bildung von vorläufigen Schulaufsichtsbehörden“ erlassen. Ergänzend dazu wird eine Richtlinie in Kraft gesetzt, die bei der Bildung der Schulaufsichtsbehörden Orientierung geben soll. Darin enthalten sind Angaben beispielsweise zum strukturellen Aufbau der künftigen Schulämter.

Die Abberufung der Schuldirektoren und die Neuausschreibung der Stellen in einem transparenten demokratischen Verfahren werden als „Aufgabe höchster Dringlichkeit und politischer Dimension“ angesehen. Aber nicht nur die Erneuerung der Leitungsstrukturen, sondern auch die Wahl von Eltern-, Lehrer- und Schülervertretungen bzw. der Schulkonferenz als Mitwirkungsgremien soll zur konsequenten demokratischen Erneuerung der Schulen beitragen.

Die „Verordnung über die Bildung von vorläufigen Schulaufsichtsbehörden“ wird erlassen, um ein notwendiges Minimum an Einheitlichkeit bei der Gestaltung der Schulen in den künftigen neuen Ländern zu wahren. Sie gilt übergangsweise bis die neu gebildeten Länder eigene landesrechtliche Regelungen getroffen haben werden. Für den Aufbau der Schulaufsichtsbehörden sind das Ministerium für Bildung und Wissenschaft und das Ministerium für Regionale und Kommunale Angelegenheiten gemeinsam verantwortlich. Die Schulaufsichtsbehörden bestehen aus den Landesschulämtern und den Schulämtern der Kreise. Auch auf diesen Ebenen wird neues Personal (Landesschulrat, Kreisschulrat) gesucht. Dafür bittet Bildungsminister Meyer die neu gewählten Landräte und Oberbürgermeister um Vorschläge für geeignete Kandidaten. Im Einvernehmen mit den Regierungsbevollmächtigten der Bezirke werden Ende Juni 1990 schließlich neue Landesschulräte ernannt.

Die Gleichzeitigkeit der ablaufenden Prozesse – Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen auf Landes- und kommunaler Ebene, Konstituierung von Schulkonferenzen, Bewerbungsverfahren für Direktorenstellen, Koordinierung und Aufsicht über die schulfachlichen Angelegenheiten – stellt für alle beteiligten Kräfte eine enorme Herausforderung dar. Ziel ist es, dass die neuen Strukturen bis zum Beginn des neuen Schuljahres arbeitsfähig sind.

Neuausrichtung der Lehrpläne und Einführung neuer Schulfächer

Ein Schwerpunkt bei der Reform des Schulwesens liegt in der inhaltlichen Neuausrichtung, womit vordringlich eine Entideologisierung sowie die Erweiterung der Lehrpläne gemeint sind. Wie bereits erwähnt werden zunächst die militärischen und ideologischen Unterrichtsinhalte bzw. -fächer abgeschafft. An Stelle des Staatsbürgerkundeunterrichtes wird das Fach Gesellschaftskunde erprobt. Der Rahmenlehrplan für dieses Fach trägt allerdings Übergangscharakter, die jeweiligen Inhalte sind im Rahmen der Bildungshoheit der Länder noch verbindlich festzulegen. Im Fremdsprachenunterricht wird die bisherige einseitige Orientierung auf das Fach Russisch als obligatorische Fremdsprache ab der 5. Klasse aufgegeben. Die Schüler können nun von Anfang an aus mehreren angebotenen Fremdsprachen (hauptsächlich Russisch, Englisch, Französisch und Latein) wählen. Außerdem machen sich kirchliche Gruppen dafür stark, die religiöse Bildung wieder in die allgemeine Schulbildung zu integrieren. Als grundlegendes Element der Allgemeinbildung soll das polytechnische Prinzip des Unterrichts erhalten bleiben, das durch einen hohen Praxisbezug zur Arbeitswelt und eine stark naturwissenschaftliche Ausprägung gekennzeichnet ist. Auch der bewährte Schulgarten- und Werkunterricht für die unteren Klassen bleibt (vorerst) bestehen. Neben diesen ersten Änderungen für das Schuljahr 1990/91 folgen weitere Anpassungen der Lehrpläne durch die für Bildungsangelegenheiten zuständigen neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung.

Schulbücher und Unterrichtsmaterialien

Lehrerinnen der 11. Oberschule Frankfurt-Oder beim Auspacken und Sortieren von Schulbüchern 1988. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1988-0822-018, Fotograf: Müller
Lehrerinnen der 11. Oberschule Frankfurt-Oder beim Auspacken und Sortieren von Schulbüchern 1988. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1988-0822-018, Fotograf: Müller

Soweit es in der kurzen Zeit bis zum Beginn des neuen Schuljahres am 1. September 1990 möglich ist, werden Schulbücher und Unterrichtsmaterialien überarbeitet, aussortiert oder ersetzt. Zum letzten Mal stellt der Verlag Volk und Wissen, bisher der einzige Schulbuchverlag der DDR, die Grundausstattung an Lehr- und Unterrichtsmaterialien für das Schuljahr 1990/91 zur Verfügung. Unter den mehr als 500 lieferbaren Titeln (Lehrbücher, Schülerarbeits- und Übungsmaterialien, Lesestoffe) befinden sich bereits Dutzende Neuentwicklungen. Viele Titel, bei denen die ideologische Überfrachtung besonders offenkundig ist, werden überarbeitet. Dies ist allerdings nicht für alle Schulbücher möglich. Ein vollständig neues Gesamtprogramm würde mehr als 750 Millionen DM kosten und ist in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichen.

Bildungsminister Hans Joachim Meyer (l.) und Bundes-bildungsminister Jürgen Möllemann (r.) unterzeichnen am 16. Mai 1990 eine Vereinbarung über Schulbuch-hilfe in Höhe von 30 Millionen DM. Quelle: Bundesregierung / Fotograf: ohne Angabe
Bildungsminister Hans Joachim Meyer (l.) und Bundes-bildungsminister Jürgen Möllemann (r.) unterzeichnen am 16. Mai 1990 eine Vereinbarung über Schulbuch-hilfe in Höhe von 30 Millionen DM. Quelle: Bundesregierung / Fotograf: o. A.

Unterstützung bei der Versorgung mit neuen Lehr- und Lernmaterialien kommt aus der Bundesrepublik. Die Bundesregierung bewilligt insgesamt 30 Millionen DM für Schul- und Lehrbücher zur Versorgung von Schülern und Lehrlingen in der Berufsausbildung. So liefern fünf westdeutsche Verlage Lehrbücher für Fächer wie Gesellschaftskunde, Geschichte, Geografie, Deutsch oder Betriebswirtschaft in die Schulen der DDR. Welche Titel konkret aus dem zur Verfügung stehenden Angebot ausgewählt werden, obliegt der Entscheidung der Schulen und Lehrer. Sie können nun erstmals selbst entscheiden, mit welchen Büchern sie arbeiten wollen. Mit der Einführung weiterer Fremdsprachen im Schulunterricht ist die Aufgabe verbunden, auch für diese Fächer die entsprechenden Unterrichtsmaterialien zu beschaffen. Die bundesdeutschen Verlage stellen auch hier die notwendigen Schulbücher und Lernmaterialien zur Verfügung. Außerdem stellt das Ministerium für Bildung und Wissenschaft eine umfangreiche Textsammlung zusammen, die als Ergänzungsmaterial genutzt werden kann. Trotz der unter hohem Zeitdruck erarbeiteten neuen Titel und der bundesdeutschen Schulbuchhilfe ist es unumgänglich, eine gewisse Anzahl der bereits vor der Regierungsübernahme produzierten Titel erneut als Schulbücher einzusetzen. Dies ruft die Kritik vieler Eltern hervor.

Neue Schultypen

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0905-410, Fotograf: Gabriele Senft
Am 5. September 1990 öffnet die erste Waldorfschule in Ost-Berlin mit fünf Klassen und rund ein Dutzend Pädagogen. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0905-410, Fotograf: Gabriele Senft

In der Frage, ob der einheitliche Schultyp der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule erhalten bleiben oder verändert werden soll, gibt es unterschiedliche Positionen. Diese reichen von der Beibehaltung der Einheitsschule über Umwandlungen in Gesamtschulen bis hin zur Einführung eines gegliederten Schulsystems. Da diese Frage auch innerhalb der Regierungskoalition strittig ist, wird sie zunächst ausgeklammert. Um jedoch prinzipiell weitere Schulformen auf DDR-Gebiet zu ermöglichen, werden in der Volkskammer mit dem Verfassungsgesetz über Schulen in freier Trägerschaft vom 22. Juli 1990 die Voraussetzungen dafür geschaffen. Auf Grundlage dieses Gesetzes werden bis zum Beginn des neuen Schuljahres bereits zehn neu gegründete, nicht-staatliche Schulen eröffnet. Dabei handelt es sich vor allem um Waldorfschulen, freie alternative Schulen, Montessori-Schulen und kirchliche Schulen.
Mit dem Einigungsvertrag wird die Verantwortung für das Schulwesen den neu zu bildenden Ländern übertragen. Hierdurch kommt es in der Folge zu unterschiedlichen landesrechtlichen Regelungen.

Situation für die Lehrer

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0320-012, Fotograf: Wolfgang Thieme
An der Karl-Marx-Oberschule in Flöha hat die Schulleitung einen Superintendenten der evangelischen Kirche ohne Lehrer-Erfahrung für den Gesellschaftskundeunterricht eingestellt. Im neuen Unterrichtsfach wird es vorerst keine Zensuren geben. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0320-012, Fotograf: Wolfgang Thieme

Die Situation der Pädagogen und Lehrer in der DDR verändert sich 1990 in vielerlei Hinsicht. Die Bereitschaft, sich mit neuen Unterrichtsstoffen, pädagogischen Lehr- und Lernmethoden zu beschäftigen, ist enorm groß. Es werden umfangreiche Weiterbildungsveranstaltungen angeboten, die großen Anklang bei den Lehrerinnen und Lehrern finden. Trotz des hohen persönlichen Engagements stehen die Schulen aber auch vor dem Problem, dass es insbesondere für die neuen Schulfächer wie Gesellschaftskunde im Sommer 1990 keine ausgebildeten Lehrer gibt. Hinzu kommt die Unsicherheit hinsichtlich der eigenen beruflichen Zukunft. Deshalb kommt es immer wieder zu Demonstrationen und Warnstreiks von Lehrern, Erziehern und anderen Pädagogen.

Demgegenüber ist seit November 1989 auch eine Entwicklung zu verzeichnen, die nicht nur erfahrene Lehrer, sondern auch Eltern mit Sorge erfüllt. Mit den gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen wechseln viele Personen aus dem Partei- und Gewerkschaftsapparat, den Schulbehörden oder auch der Staatssicherheit in den (Berufs-)Schulbetrieb als Lehrer, um sich eine berufliche Zukunft zu sichern. Dieser Vorgang wird in allen Bezirken der DDR beobachtet und entsprechende Beschwerden liegen auch dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft vor, wo unterschiedliche Handlungsoptionen für den Umgang mit diesem Problem geprüft werden.

In Bezug auf die Anerkennung des Lehrerberufs im vereinten Deutschland greift die Regelung des Einigungsvertrages nach Artikel 37: Durch die grundsätzliche Gleichstellung aller Bildungsabschlüsse sind auch die bisherigen Abschlüsse für Lehrer erfasst. Für die Anerkennung von Lehramtsprüfungen gilt das in der Kultusministerkonferenz übliche Verfahren mit entsprechenden Übergangsregelungen für die neuen Länder.

Um den gesellschaftlichen Veränderungen im Schulwesen gerecht zu werden und die Einpassung in die bundesdeutschen Rahmenbedingungen der Ausbildung von Lehrern zu ermöglichen, wird die Lehrerbildung in der DDR noch in den letzten Wochen neu gestaltet. Die Verordnung über die Ausbildung für Lehrämter vom 18. September 1990 sieht unter anderem die Einführung von Staatsprüfungen und eines Vorbereitungsdienstes sowie Übergangsbestimmungen für diejenigen vor, die bereits mit der Lehrerausbildung begonnen haben. Die Verordnung gilt bis zur Verabschiedung neuer Rechtsvorschriften durch die neuen Länder.

Bildungsminister Meyer nimmt in der Sendung „Controvers“ am 10. Juli 1990 Stellung zu aktuellen Fragen der Schulpolitik, der Schulbuchversorgung und der Situation der Lehrer.

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

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